Die zweite Halbzeit kommt erst noch

Der Buchhändler Klaus Baltruschat konnte zum erstenmal das Krankenhaus verlassen. Es zog ihn zum Handball. Nach dem Attentat wünschen sich seine Frau Käthe und er vor allem eines: Normalität  ■ Von Jens Rübsam

Als wäre nichts gewesen. Wie immer ist Klaus Baltruschat pünktlich. Wie immer ist er gut gelaunt. Wie immer ist er davon überzeugt, daß seine Mädels das Beste geben werden. Er trägt einen blau-grünen Trainingsanzug, ein Hemd und schwarze Lederschlappen. Er streicht einer der jungen Damen durchs Haar, legt einer anderen den Arm um die Schulter, begrüßt seine alten Freunde mit festem Handschlag – und marschiert geradezu aufs Parkett. Dahin, wo er zu Hause ist. Seit 27 Jahren.

Hier, im Sportkomplex „Alte Försterei“ in Berlin-Köpenick, hat Klaus Baltruschat seine Freitage verbracht, hat er Kindern und Jugendlichen aus dem Stadtteil das Handballspielen gelehrt. Hier hat er seine Wochenenden verbracht und in Punktspielen gesehen wie aus Mädels Spielerinnen werden.

Und heute, hat er sich gesagt, an diesem Sonntag darf er nicht fehlen. Für seine Mädels von Ajax Köpenick geht es um alles. Um den ersten Platz in der Stadtliga und um den Aufstieg in die Landesliga. Für seinen Sohn Uwe, der vor eineinhalb Jahre das Training übernahm, geht es um den Lohn harter Arbeit. Für ihn, Klaus Baltruschat selbst, geht es um Selbstvertrauen und das Gefühl, gebraucht zu werden. Er hat die Ärzte gebeten, ihn „raus zu lassen“. Nur für dieses Spiel: Ajax Köpenick gegen TuS Hellersdorf. Es ist das erstemal, daß er nach dem Attentat das Krankenhaus verlassen darf.

Jeder soll sehen, daß er noch werfen kann

Alles soll so sein wie immer. Keiner soll achten auf den linken Ärmel seines Trainingsanzugs, der schlapp herunterhängt. Keiner soll achten auf seine verbundene rechte Hand, an der zwei Finger fehlen. Jeder soll sehen, daß er mit dieser rechten Hand noch elegant einen Ball fangen kann. Daß er noch werfen, noch jonglieren kann. Daß in dieser Hand noch Kraft steckt. Die Mädels haben ihm am Krankenbett gesagt: „Klaus, wir brauchen dich noch.“ Daß es nie mehr so sein wird wie früher, „das weiß ich“. Ob er noch trainieren wird, trainieren kann? Wer, fragt Klaus Baltruschat, könne das heute, elf Tage nach dem Attentat, schon sagen? Jürgen Kleibs, der Trainerkollege und Freund, weiß: „Der Klaus hat sich für den Handball stets ein Bein ausgerissen. Wenn der aufhört, bricht hier die Kinder- und Jugendarbeit weg.“ Käthe Baltruschat, seine Frau, sagt: „Der Handball, das ist dem Klaus sein Leben.“

Am Mittwoch vor zwei Wochen wurde Klaus Baltruschat, der Buchhändler aus dem Marzahner PDS-Haus, von Kai Diesner, einem Rechtsradikalen, niedergeschossen. Der linke Unterarm und zwei Finger der rechten Hand mußten amputiert werden. Der Anschlag habe nicht Klaus Baltruschat gegolten, sagte Diesner später bei der Vernehmung, sondern der PDS, die mobilisiert hatte gegen einen Aufmarsch der Jungen Nationaldemokraten im Nachbarbezirk Hellersdorf. Diesner wollte die PDS strafen; getroffen haben die Schüsse aus der Pump-Gun den 63jährigen Buchhändler aus dem Haus Alt-Marzahn 64, in dem PDS-Bundestagsgruppenchef Gregor Gysi sein Wahlkreisbüro hat und die Genossen der PDS-Bezirksgeschäftsstelle sitzen. Getroffen haben die Schüsse freilich einen Genossen, einen langjährigen, einen überzeugten.

Der Ball wippt in seiner rechten Hand. Er tippt ihn aufs Parkett, fängt ihn auf, tippt ihn noch einmal und fängt ihn wieder auf. Er will es sich beweisen. Er muß es nicht. „Klaus“, sagt die 15jährige Marlen, „ist wie ein Opa. Er ist kein strenger Trainier, er ist lieb und nett.“ Früher hat er Bonbons und Gummibärchen zum Training mitgebracht. Michaela sagt: „Wenn er durchgreifen wollte, mußten wir höchstens mal ein paar Liegestütze zur Strafe machen.“ Jürgen Kleibs, der Kollege, meint: „Deswegen hat er wohl nie Jungs trainieren können. Er ist einfach zu gutmütig.“

Er tippt den Ball aufs Parkett. Sein kleines, rundes Gesicht strahlt, die Augen werden größer als ein Handball. Die Mädels überreichen ihm rote Nelken. Er wird verlegen. „Ich muß euch was sagen“, sagt Klaus Baltruschat, und sagt, daß ihm heute alles ein wenig schwerfalle. Auch und gerade ein Spiel zwischen einer Köpenicker und einer Hellersdorfer Mannschaft anzupfeifen. „Köpenick verbinde ich mit der Köpenicker Blutwoche 1933. 30 Menschen wurden damals von den Nazis umgebracht. Und die Köpenicker haben zugesehen. Auf die Hellersdorfer dagegen bin ich stolz. Bei euch sind die Nazis nicht durchgekommen.“ Viel mehr will er nicht sagen. Nur das noch: „Kämpft fair. Seid gegen Gewalt.“ „Stoppt die Gewalt“ steht auf den T-Shirts seiner Mädels.

Angela wirft das erste Tor – für Ajax. Klaus Baltruschat springt hoch, ballt die rechte Hand zur Faust, dreht sich um, will sagen: „Seht, was meine Mädels können!“, sucht einen Stuhl, will sich dann doch nicht setzen, er ist viel zu aufgeregt. Er bleibt es während des ganzen Spiels. „Maxi, komm!“, ruft er, und „Hey, Hey, der Torwart ist okay!“. Jana, die Torfrau, ist es wirklich. Sie hält fast alles. Klaus Baltruschat läßt die Faust geballt, schlenkert den leeren Ärmel seines Trainingsanzugs. Seht, schreit es aus ihm heraus, seht, es geht noch. Er scherzt. Er muß lachen. Dann wird er ganz still.

„Die Probleme werden kommen, wenn er wieder zu Hause ist. Wenn er anfängt zu begreifen.“ Käthe Baltruschat hält sich im Hintergrund, schaut hinüber zu ihrem Mann, mit dem sie 40 Jahre verheiratet ist. Sie gönnt ihm die 60 Minuten Abwechslung, das Ausgelassensein. Anders hat sie ihn in den letzten Tagen oft genug erlebt. Mal gelassen, als er sagte: „Ich empfinde für den Täter keinen Haß. Ich will keine Rache. Ich will mit dem Jungen reden.“ Mal sehr mürbe, als er erfahren hat, daß Kai Diesner vier Tage nach dem Attentat auf ihn auf einem Autobahnrastplatz in Schleswig-Holstein einen Polizisten erschossen hat. „Was wird aus der Frau des Polizisten?“ Er hat der Witwe einen Brief geschrieben.

Er selbst hat Briefe aus ganz Deutschland erhalten. Nicht nur politische Freunde haben ihm geschrieben, nein, auch viele, ganz einfache Menschen. „Das hat mir Kraft gegeben.“ Daß soviel Solidarität heute noch möglich ist, Klaus Baltruschat hätte es nicht gegelaubt. Nur von offizieller Seite kam nichts. Kein Wort vom Regierenden Bürgermeister, keines vom Bezirksbürgermeister. „Das ist das Klima, in dem Gewalt geschürt wird.“ Das mag hart und ein wenig ungerecht klingen. „Aber“, fragt Klaus Baltruschat, „ist Gewalt in diesem Land nicht zur Normalität geworden?“

Petra Pau, die PDS-Landesvorsitzende, hat ihn zweimal im Krankenhaus besucht; Parteichef Lothar Bisky war da; Gregor Gysi hat ihm geschrieben. „Menschsein heißt anderen helfen. Menschsein heißt auch, Hilfe anderer anzunehmen“, stand da geschrieben.

Sich helfen zu lassen, das mußte Käthe Baltruschat lernen. Eine Marzahner Genossin bot sich an, bei ihr im Haus sauberzumachen. Ein ehemaliger Schüler von ihr kam spontan in den Buchladen, er wollte zupacken. „Er war einfach da, ich habe ihn anfangs gar nicht erkannt.“ Sie hat die Hilfe angenommen. Ihre drei Kinder Petra, Michael und Uwe waren sowieso immer da.

Am Montag nach dem Anschlag hat Käthe Baltruschat den Buchladen wieder geöffnet. „Wir müssen aufmachen, wir dürfen uns nicht kleinkriegen lassen.“ Nicht von diesen Rechtsradikalen. Die Briefe, die Geldspenden für Kuba (Klaus Baltruschat wollte keine Blumen, sondern Geld für „sein“ Land, für Kuba), die Solidarität haben ihr Recht gegeben. Sich zurückzuziehen, das wäre jetzt das Falschste gewesen. „Die Eltern waren schon immer stark“, sagt Petra, die Tochter.

Nicht ein einziges Mal hat sie geweint

„Wollen leben. Wollen kämpfen. Müssen stark sein.“ So hat es Käthe Baltruschat in ihrem Notizbuch vermerkt. Viel hat sie aufgeschrieben in den letzten Tagen, um nicht zu vergessen. Was nicht im Notizbuch steht: Nicht ein einziges Mal hat sie geweint. Sie konnte nicht. „Tränen wären vergeudete Kraft“, sagt sie. Und: „Ich kann doch jetzt nicht schwach sein.“ Nicht jetzt, da sie so viele Menschen an ihrer Seite weiß, da sie andere trösten muß. Viele kommen zu ihr und weinen und können nicht verstehen, wie das passieren konnte. Ihre Härte ist selbstverordnet, ein Schutz gegen Gefühle. „Ich empfinde im Moment gar nichts. Ich funktioniere nur.“ Das sagt sie, und es wirkt abgeklärt. „Vielleicht denken jetzt viele, ich bin hart.“ Nach außen mag das so erscheinen, aber innen, „da ist ein weicher Kern“.

Käthe Baltruschat hat sich verändert nach dem Attentat. Sie macht nur die Dinge, die gemacht werden müssen. Den Buchladen offenhalten und die Parteiarbeit nicht vergessen. Vor allem die Parteiarbeit. „Ich bin kein Gewählter, der Menschen gewinnen muß. Ich bin einfaches PDS-Mitglied“, sagt Klaus Baltruschat, der Genosse. „Ich bin für soziale Gerechtigkeit und vor allem dafür, daß den Kindern und Jugendlichen eine Perspektive in diesem Land gegeben wird.“ Allein deswegen müsse er weitermachen, mit der „parteilichen Kleinarbeit“.

Der Handball läuft auch von allein. Die Mädels von Ajax Köpenick haben gegen TuS Hellersdorf gewonnen, 18:10. Uwe Baltruschat ist stolz auf das Team. Klaus Baltruschat ist stolz auf Uwe, seinen Sohn. „Es ist auch dein Sieg.“ Das Spiel ist aus, und Klaus wird gebraucht. Marlen ist in Tränen ausgebrochen; sie wurde nicht eingesetzt. „Jeder gehört zum Team, auch du“, sagt Klaus. „Das nächste Mal bist du wieder dabei.“ Bestimmt. Ob er es auch sein wird? Er weiß es nicht. Heute abend muß er zurück ins Krankenhaus.