In Dömitz ist Ruh'

In der Festungsstadt am östlichen Elbufer guckt man nach Gorleben, hört von den Protesten – und geht nicht hin  ■ Von Andrea Böhm

Die kleinen Straßen sind wie leergefegt. Das Café Cornehl hat Winterpause und wünscht der Kundschaft ein gutes neues Jahr und Frohe Ostern in einem Aufwasch. Der Motorradshop mit der US-Flagge auf dem Dach und der roten Harley-Davidson im Schaufenster hat geschlossen, ebenso die Apotheke, der Buch- und Musikladen, der „Kuschelrock“ für zehn Mark anbietet, und das Heimatmuseum in der Festung an der Elbe. Es ist Mittagszeit – und zur Mittagszeit sind in Dömitz nur die Katzen auf der Straße.

Diese Ruhe inmitten schiefer Backsteinhäuser und schmaler Gassen aus Kopfsteinpflaster wäre beschaulich, würden auf der anderen Seite des Flusses nicht gerade ein paar tausend Menschen mit Schaufeln und Hacken Straßen unterhöhlen, Barrikaden errichten, Traktoren ineinander verkeilen, Straßenschilder unkenntlich sprühen, anrückenden Polizeieinheiten entweder sich selbst oder brennende Strohballen in den Weg werfen oder mit Trillerpfeifen einen Lärmpegel herstellen, der die Katzen auf der anderen Elbseite in die Häuser flüchten läßt.

Es gibt in Dömitz mittlerweile ein paar Graffiti, die erklären, worum es auf der anderen Seite des Flusses geht. „Stop Castor“ steht auf der Mauer eines leerstehenden Hauses. Und in ein paar Nachbardörfern sind bereits Leute mit Berliner Autokennzeichen gesichtet worden, die Vorfahrtsschilder mit dem Warnsymbol für Radioaktivität besprüht haben. Solche Protestformen gehen Rainer Timm schon viel zu weit. „So ein Schild kostet 2.000 Mark.“ 2.000 Mark, die der Dömitzer Haushalt nicht vorsieht, denn auch hier, in der ehemaligen Grenzstadt der ehemaligen DDR, muß gespart werden. 2.000 Mark, die Bürgermeister Timm – wenn er sie denn hätte – für anderes investieren wollte als für den Sachschaden von Atomkraftgegnern. Für „glatten Wahnsinn“ hält er, was zwölf Kilometer weiter in Dannenberg und Umgebung – mit Unterstützung vieler seiner Amtskollegen auf westlicher Seite – dieser Tage mobilisiert wird, um die Ankunft des dritten Atommülltransportes nach Gorleben zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Daß Jugendlichen Flugblätter in die Hand gedrückt werden, um sie über ihre Rechte im Falle einer Verhaftung aufzuklären, geht dem Vater von sechs Kindern entschieden zu weit.

Rainer Timm hat wie die meisten Dömitzer den Protest der Bevölkerung in Lüchow-Dannenberg gegen die Atommüllagerung in Gorleben von Anfang an mitbekommen. „Wir wohnten hier so nah an der Kante, und die Dritten Programme haben ständig berichtet.“ Bloß hat das in Dömitz und Umgebung niemanden besonders beschäftigt – obwohl ihr Städtchen näher an dem Zwischenlager liegt als Dannenberg. Doch die Atomenergie war vom real existierenden Sozialismus bereits zur sauberen und sicheren Energiequelle erkoren worden. In Morsleben wurde längst der Atommüll aus sozialistischen AKWs endgelagert. „Unsere Physiklehrer waren immer dafür“, sagt Timm. Und wenn sie es nicht waren, dann hüteten sie sich, es laut zu sagen.

Daran hat sich heute nicht soviel geändert. Im Gegensatz zu ihrem Bürgermeister, der bei der Auswahl des Standorts für Zwischen- und Endlager den Wissenschaftlern vertrauen will, ist vielen Dömitzern mindestens unwohl bei dem Gedanken an den Atommüll vor ihrer Haustür. Bis auf besagtes Graffito, ein Plakat mit dem Hinweis auf Unterschriftensammlungen gegen Gorleben und ein einziges Fenster, in dem ein „Stop Castor“-Plakat hängt, ist davon aber wenig zu sehen und zu hören. Dabei sind die Dömitzer engagierte Naturschützer. Das verraten die Ankündigungen des BUND und die Beteuerungen des Verwaltungsleiters Robert Neumann. Hier werden Wanderwege gewartet, Krötenzäune gebaut und die Elbtalaue als Naturschutzgebiet wie ein Kleinod behandelt.

Über Informationsmangel in Sachen Castor-Behälter, Zwischenlagerkonzepte und Salzstockbohrungen kann auch niemand klagen. Der Heimatverein ist gerade zu einer Führung ins Zwischenlager nach Gorleben gefahren und hat sich alle möglichen Katastrophenszenarien simulieren lassen, um anschließend beruhigende Worte über die Unverwüstbarkeit der Castor-Behälter zu hören. Sowohl die Bürgerinitiativen wie auch die Betreiber haben die Dömitzer immer mal wieder besucht, um Informationsveranstaltungen anzubieten und Streitgespräche abzuhalten.

Die seien schon recht emotional verlaufen, sagt Jürgen Scharnweber, der das Museum in der Dömitzer Festung aus dem 16. Jahrhundert leitet. „Fünfeckig. Altitalienische Fortifikationskunst“ steht auf einer Wandtafel. Ein paar von den Kanonen, die einst zur „Kontrolle der Elbübergänge“ dienten, zielen heute Richtung Gorleben. „In der Sache“, sagt Jürgen Scharnweber, sei er ganz auf der Seite der Atomkraftgegner, aber den kurzen Weg über die Elbbrücke zu den Protestaktionen macht er nicht. Gut möglich, daß ihm und vielen Dömitzern gerade das „Emotionale“ an dieser Auseinandersetzung so fremd ist. Da ist in den letzten zwanzig Jahren auf der anderen Elbseite eine Kultur des Widerstands herangewachsen, die schon viele Westdeutsche nicht erklären können. Warum also von einer kleinen Gemeinde in der ehemaligen DDR erwarten, daß sie geschlossen über die Elbbrücke stürmt, um Barrikaden zu bauen?

Ein Lokalsender meldet am Vormittag tatsächlich Demonstrationen auf der Elbbrücke und einen Einsatz der Dömitzer Polizei. Bloß weiß die davon nichts. „Das muß ein Gerücht sein“, sagt Polizeihauptkommissar Ralf-Peter Hirsch, dessen Revier noch Mobiliar aus DDR-Zeiten aufweist. Roman Herzog hängt an der Wand, daneben werden individuelle Freiheitsrechte auf einem Hochglanzposter gepriesen, und Hirsch rätselt, daß mit dem Polizeieinsatz vielleicht seine vier Beamten vor der Brücke gemeint sein könnten, die Autofahrer freundlich darauf hinweisen, daß man in die Protesthochburg Dannenberg „nur noch ganz schwer oder gar nich'“ durchkommt.

„Vielleicht ist die Elbe eben doch noch Grenze“, sinniert Hirsch in Anbetracht der Frage, warum das Aktionsfieber sich am anderen Ufer in alle Richtungen ausbreitet – bloß nicht nach Osten. Was so auch nicht stimmt, denn es gibt in mehreren Städten der ehemaligen DDR Anti-AKW-Gruppen; es gibt dieser Tage Demonstrationen gegen die Gorleben- Transporte in Leipzig oder Halle.

Viele in Dömitz seier Pendler, müßten weite Wege zur Arbeit zurücklegen, sagt Neumann, und „sind dann einfach zu müde, um noch zum Demonstrieren zu gehen“.

„Vielleicht sind wir hier einfach ein bißchen träge“, meint auch Anja Lüth, die sich darüber ärgert, daß sie in der Schweriner Volkszeitung, dem Hausblatt der Dömitzer, nicht gerade mit Informationen über die Proteste in Lüchow-Dannenberg überfüttert wird. Während die Elbe-Jeetzel-Zeitung von „drüben“ ihre Seiten mit Berichten und Bildern über die Aktionen füllt – darunter an diesem Tag eine Hommage an den Comic-Helden Werner als Castor-Gegner. Bloß kriegt man die Elbe-Jeetzel-Zeitung nicht so ohne weiteres in Dömitz. „Probieren Sie's mal in dem Laden bei der Post. Der hat eigentlich immer eine.“

Vielleicht liegt es auch daran, daß sich viele in Dömitz weniger über den Atommüll und die dafür verantwortlichen Politiker aufregen als vielmehr über den Umstand, daß letztere reichlich Subventionen in den Landkreis Lüchow-Dannenberg gesteckt haben – als Entschädigung für den Standort als Atommüllager. Bloß der Osten hat bislang nichts gekriegt. „Glauben Sie vielleicht, die Leute hier merken das nicht, wenn die sich da drüben ein nagelneues Schwimmbad hinstellen ...?“ fragt der Bürgermeister. Ob er für oder gegen den Castor ist, sagt der CDU-Politiker, hätte ihn im Wahlkampf noch niemand gefragt. Ob er aber Subventionen und Investoren heranholen kann – das interessiert die Leute.

Während Dömitz an diesem Tag zu Tisch sitzt, räumt die Polizei auf der anderen Uferseite die erste Straße. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Beamten und Demonstranten, werden die Dömitzer am Abend in den Nachrichten hören.

Gleich hinter dem Eingang des Rathauses hängt – etwas verrutscht – ein ehrwürdiges Dokument in einer Glasvitrine. Es ist ein Brief aus dem Jahr 1990 der beiden Bürgermeister von Dannenberg und Dömitz an den Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, und Bundeskanzler Helmut Kohl. Darin begrüßen die Bürgermeister die neue Verbindung zwischen ihren „Lebensräumen“ und bitten zwecks Verstärkung des „erneut deutlich gewordenen Gefühls der Zusammengehörigkeit“ um die schnellstmögliche Wiederöffnung der Elbrücke. Die Brücke war schnell fertig.