Der letzte Castor ist im Lager

Mit zunehmender Brutalität hat die Polizei ihren Auftrag erfüllt – der Atommüll ist in Gorleben. BI voller Hoffnung: Wir verwandeln die Niederlage in einen Sieg  ■ Aus dem Wendland Jürgen Voges und Andrea Böhm

Gestern um 15.11 Uhr hatte der Atomstaat einen Pyrrhussieg errungen: Der letzte der sechs Castor-Behälter war auf das Gelände des Zwischenlagers Gorleben gerollt. Über 30.000 Polizisten haben die tagelange Schlacht gegen die über zehntausend Demonstranten geschlagen.

Knappe vier Stunden brauchte der Konvoi für die 20 Kilometer letzte Etappe von Dannenberg nach Gorleben. Immer brutalere Polizeieinsätze bahnten ihm den Weg.

Bei Quickborn lieferte sich die Polzei mit rund fünfhundert Autonomen ein regelrechtes Gefecht. Aber auch gegen friedliche Sitzblockierer gingen die Polizisten mit um so härteren Mitteln vor, je mehr der Transport dem Zeitplan hinterherhinkte. Als sich die Tore des Zwischenlagers schlossen, als Polizisten und Demonstranten den Heimweg antraten, gingen sie aneinander vorbei, als ob sie sich nicht tagelang feindlich gegenüber gestanden hätten. Die politische Marschroute war dank der massiven Polizeihilfe umgesetzt. Umgesetzt nur für diesen Tag. Die Zukunft der Atommüllentsorgung war nach diesem Einsatz, der über hundert Millionen Mark gekostet hat und der das Wendland für eine Woche in eine Polizeifestung verwandelte, umstrittener und unsicherer als je zuvor.

Begonnen hatte der Einsatz schon vor Morgengrauen. Doch um 11.50 Uhr hat der erste der sechs Atommüllbehälter gerade 400 Meter zurückgelegt — genau jene 400 Meter vor der Castor- Verladestation, die siebentausend Menschen mit ihren Körpern verteidigt hatten, jene 400 Meter, die die Polizei erst in neun Stunden von den ebenso entschlossenen wie gewaltfreien Blockierern zu räumen vermochten. Vier junge Frauen balancieren auf einem Seil über der Straße (siehe Seite 3). Der Castor steht wieder.

„Leute! Dieser Tag ist ein Meilenstein in der Geschichte des Widerstands, Leute, dieser Tag wird viel bringen“, hatte der gelbe Lautsprecherwagen von „X-tausendmal quer“ die standhaften Blockierer gelobt, als die Polizei die Strecke in Besitz genommen hatte. Um sieben Uhr hatte Gesamteinsatzleiter Ulrich Dauert seine härteste Knüppelgarde an die Front geschickt, die im Wendland bereits verschrieenen Magdeburger Schutzpolizisten. Die bahnten dann den Wasserwerfern meist im Faust- und Fußkampf den Weg. Wer nicht weichen wollte, den packten sie in die Nasenlöcher und zogen ihn hoch. Durchnäßt, weinend, die Nasen blutig oder auch mit von Schlägen verquollenem Gesicht suchten die Mißhandelten die Hilfe von Ärzten und Sanitätern.

Die Blockierer haben sich von all dem nicht provozieren lassen, sie blieben ihren gewaltfreien Prinzipien treu. Der niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Uwe Inselmann, als offizieller Demonstrationsbeobachter vor Ort, bat immer wieder vergeblich in Telefonaten mit der Einsatzleitung um einen verhältnismäßigen Einsatz ohne Tritte, Schläge und Wasserwerfer.

Über 10.000 Menschen standen dann auf den Äckern am Verladekran, als die Räumung beendet wurde. Mut machten ihen immer wieder Durchsagen über ander Prostestaktionen entlang der Strecke. Sie erhielten genauso Nachricht von den 500 Castor- Gegnern, die bei Quickborn auf die Straße gelangt waren, wie später von rund 1.000 Wendländern, die mit Kind und Kegel in Grippel ein Straßenfest auf der Strecke begannen. Bis zur letzten Minute waren Straßen unterhöhlt, Barrikaden gebaut, Blockaden geplant worden. Als der erste Castor-Transporter gegen 13 Uhr endlich in Grippel, fünf Kilometer vor Gorleben, eintrifft, sind bereits ein paar Farbeier auf der Frontseite gelandet.

Seit über zwei Stunden eilen Polizei und BGS-Beamte im Laufschritt den sechs Castor-Transportern voraus, preschen hin und wieder mit Kriegsgebrüll seitwärts in den Wald, um Demonstranten zu jagen – oder räumen Blockaden mit Schlagstock und „schonender Beregnung“. Dann folgt im Schritttempo die Armada aus Mannschafts- und Räumfahrzeugen, Wasserwerfern, Funk- und Sanitätswagen. Gejohle und Pfeifkonzerte am Rand gehen im Gedröhne der Hubschrauber unter.

Die Bürgersteige sind mit Polizeifahrzeugen blockiert, doch plötzlich preschen Demonstranten aus der Stalltür des Bauernhofs und werfen sich auf die Straße. Ihre Arme stecken in den Löchern einer großen Holzkiste, in der sie sich mit Autogurten aneinandergeknotet haben. Die Beamten, ihrerseits wütend über diese Blitzblockade, ziehen und zerren – und schleifen am Ende den ganzen Kasten mitsamt Blockierern Richtung Straßengraben. Ein gebrochener Arm und eine Gehirnerschütterung sind das Fazit dieser Aktion. Der Krankenwagen, der den Verletzten abtransportieren soll, wird kurzerhand von einem Polizisten an den Straßenrand gefahren. Um die Ecke warten die Castor-Transporter. Der Atommüll hat Vorfahrt.

Nichts soll ihn jetzt noch aufhalten dürfen, heißt die klare Einsatzdevise der Polizei. Die Straßenschäden hatten Bautrupps die Nacht über repariert. Hinweise auf Sprengstoff an der Wegstrecke hatten die Abfahrt verzögert. Jetzt muß der Castor durch.

Trotzdem bleibt noch Zeit für amtliche Racheaktionen. Während alle Aufmerksmakeit auf die Räumung der großen Sitzblockade in Dannenberg gerichtet ist, landet ein Hubschrauberkommando an der Treckerblockade in Splietau, wo Bauern im Zuge der „Stunkparade“ am letzten Sonntag 70 ihrer Traktoren zu einem unüberwindlichen Hindernis verkeilt hatten – sehr zur Verblüffung der desorientierten Polizei. Innerhalb weniger Minuten zerstört das Polizeikommando sämtliche Traktorenreifen.

Und schließlich ist die Fahrt am vorgesehen Ziel zu Ende. Unter einem Pfeifkonzert rollen Tieflader und Polizeifahrzeuge ins weiträumig abgesperrte Zwischenlager.

Die politische Diskussion beginnt. Nicht nur die SPD, sondern auch die CDU-Landtagsabgeordneten am Rande der Blockade forderten, daß dieser zweite Castor-Transport auch der letzte gewesen sein müsse, daß nun eine politische Lösung des Konfliktes um die Einlagerung von Atommüll in Gorleben notwendig sei.

Und der Widerstand hat Hoffnung gemacht. Der Sprecher der BI Lüchow-Dannenberg, Wolfgang Ehmke, sagte schon am frühen Morgen, als die Räumung immer brutaler wurde: „Wir waren schon immer groß darin, unsere momentanen Niederlagen am Ende in Siege zu verwandeln.“