: Die Behäbigkeit des Satelliten
Die einstige „16. Sowjetrepublik“ Bulgarien hat den Sprung in die Marktwirtschaft nicht geschafft. Finanzhilfen beschleunigen den Prozeß kaum ■ Von Karl Gersuny
Wien (taz) – Es gibt nur einen Verlierer in Osteuropa. Nur ein Land, in dem sich mit der Systemwende vom Staatssozialismus zur Marktwirtschaft alles rasant verschlechterte: Bulgarien. Selbst im kriegsgeschüttelten Bosnien oder im Armenhaus Albanien gibt es größere wirtschaftliche Veränderungen als in Bulgarien. Auch wenn der Balkanstaat erst in den vergangenen Wochen in die Schlagzeilen rückte, mit langen Käuferschlagen vor Bäckereien, Plünderungen von Getreidelagern und ersten Hungertoten, ist die Misere alt und selbstverschuldet.
Jüngsten Statistiken von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) zufolge, lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze von fünfzehn Mark im Monat. Bulgarische Medien behaupten sogar, in den Lohntüten von fast 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung hätten sich im Februar gerade noch 14.000 Lewa befunden – umgerechnet zehn Mark. Offiziell sind 12 Prozent der Berufstätigen arbeitslos, inoffiziell sind über 30 Prozent arbeitslos oder verdingen sich als Tagelöhner. Die monatliche Inflation steuert auf 100 Prozent zu, dieses Jahr wird eine Preissteigerung gegenüber 1996 von über 1.000 Prozent erwartet. Bei einer Staatsverschuldung von 9 Milliarden Dollar – bei nur 8,5 Millionen Einwohnern – betragen allein die Zinszahlungen an westliche Gläubigerbanken eine Milliarde Dollar. Das Bruttosozialprodukt liegt bei gerade zehn Milliarden Dollar.
In den vergangenen sieben Jahren wurden nur ein Fünftel der landwirtschaftlichen Kolchosen und staatlichen Kombinate privatisiert. 80 Prozent der Staatsbetriebe machen Verluste. Spät rächt sich, was für die bulgarische Wirtschaft einst von großem Segen war: Die Handelsbeziehungen zwischen Sofia und Moskau waren enger als zwischen jedem anderen sozialistischen Bruderstaat und der sowjetischen Zentrale. Im Osten nannte man deshalb Bulgarien die 16. Sowjetrepublik. Bis spät in die achtziger Jahre lieferte der „große Bruder“ zu Dumpingpreisen Strom, Gas und Rohöl, aber auch Industrieprodukte und hochwertige Konsumgüter. Bulgarien setzte dort zwei Drittel seiner Exporte ab. Viele Betriebe produzierten ausschließlich für die Sowjetunion, während zur selben Zeit Polen und Ungarn auf dem Weltmarkt einkauften und ihre Produkte gegen internationale Konkurrenz durchsetzten.
Die bulgarische Wirtschaft blieb bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion von globalen Einflüssen verschont. Danach traf die Öffnung der Märkte das Land um so härter. Der Aufbruch in den Kapitalismus blieb aus, der Handel mit Moskau versiegte und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien schreckte westliche Firmen von Investitionen im östlichen Balkanwinkel ab. In die ungarische Wirtschaft haben westliche Unternehmen seit 1990 über 20 Milliarden Dollar investiert. In Bulgarien sind es magere 300 Millionen Dollar, ohne Aussicht auf größere Investitionsfreudigkeit.
Daran ändern auch die jüngsten Verhandlungen zwischen IWF und bulgarischer Regierung wenig. Außer Absichtserklärungen und kleineren Umschuldungskrediten ist von westlicher Seite keine Hilfe zu sehen. Die EU hat zwar eine Soforthilfe von 20 Millionen Ecu beschlossen, mit der Sofia bei den Nachbarn Rumänien und Griechenland Getreide aufkaufen will. Der IWF hat Bulgarien eine Umschuldung vorgeschlagen, aber nur unter der Bedingung, daß der Staat im nächsten halben Jahr 60 Prozent seiner Staatsbetriebe privatisiert, alle Subventionen streicht und lukrative Aufträge westlichen Konzernen vollständig überläßt. Darunter soll der Aufbau eines modernen Telefonnetzes sein, neue Fernstraßen und ein neuer Flughafen – ohne bulgarische Mitbeteiligung.
Die IWF-Unterhändler argumentieren, wenn westlichen Firmen erst einmal freie Hand bei einigen Großaufträgen gelassen wird, werde dies weiteres Kapital ins Land locken und langfristig die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung erleichtern. Wie die Bevölkerung mit einer solchen Therapie zurechtkommen soll – bei Vernichtung von Arbeitsplätzen und rasanten Preissteigerungen – interessiert IWF und Weltbank nicht. Schon jetzt ist die innenpolitische Lage in Bulgarien angespannt, Bauernaufstände und Hungerrevolten sind jederzeit möglich.
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