Soziale Beziehungen der anderen Art

■ Philippe Descola erzählt in seinem Buch „Leben und Sterben in Amazonien“, wie bei den Achuar-Indianern soziale Kontakte durch Stammesfehden geknüpft werden

Nahezu unbeeindruckt von der Krise der Ethnologie, machte sich der französische Ethnologe Philippe Descola daran, in ganz klassischer Weise einen relativ unbekannten Indianerstamm am Amazonas zu erforschen. Sein Buch über den dreijährigen Aufenthalt bei den Achuar ist fast romanhaft erzählt. Vom Grenzort Puyo bricht die kleine ethnologische Expedition auf, die aus dem Autor und seiner Gefährtin Anne Christine besteht.

Vorgeschichte und Vorbereitung der Expedition sind kunstvoll verflochten mit den Eindrücken aus dieser Grenzstadt und dem Bemühen, erste Informationen über den Stamm zu erhalten. Auch die erste Kontaktaufnahme mit den Achuar wird sehr spannend erzählt. Tagesablauf, Jagd und Fischfang, Gartenkultur, Geschlechterbeziehung, Medizin, Schamanismus, Sterben, Tod und stammesinterne Vendetta-Kriege werden beschrieben. „Frühmorgens“, „Dorfgerüchte“, „Die Magie der Gärten“, „Eine Jagdpartie“, „Handwerker des Imaginären“, „Tote und Lebende“ lauten einige der Überschriften. Geradezu elegant gelingt es Descola, die verschiedenen Aspekte des Achuar-Lebens auf der Zeitachse seines Aufenthalts zu verteilen.

Er beschreibt die Praxis der Schamanen, ohne dabei in mystische oder magische Nebentöne zu verfallen. Es ist ein ganzes symbolisches System des Umgangs mit Zauberpfeilen, das der Schamane beherrschen muß: ihren Urheber auszumachen, sie zurückzuleiten, weiterzuleiten oder aufzubewahren. Geradezu übervorsichtig muß er mit seinem eigenen Vorrat an Zauberpfeilen umgehen. Trifft er den Falschen oder richtet er damit Unheil an, so können diese Pfeile wieder zu ihm zurückgelenkt werden, mit mehr oder weniger fatalen Konsequenzen. Wenn ein Schamane explizit die Verantwortung für eine Behandlung übernimmt, diese aber scheitert, läuft er Gefahr, als böser Zauberer verschrien zu werden.

Zwei rätselhafte Phänomene stehen im Zentrum von Descolas ethno- oder soziologischem Interesse: das erste ist die blutige, stammesinterne Vendetta – dieses inneren Krieges, zur einzigen Institution dieses Volkes erhoben. Denn in den von Zeit zu Zeit ausbrechenden stammesinternen Kriegen wird paradoxerweise so etwas wie das soziale Band geknüpft: durch die ihnen vorausgehenden und nachfolgenden Allianzen, Zweckbündnisse und Gegnerschaften. Descola sieht darin den Ausdruck eines besonderen Typs der sozialen Beziehungen, über die die kollektive Identität, die ethnischen Grenzen und die Statuspositionen laufend neu ausgehandelt und wiederhergestellt werden.

Das zweite Phänomen ist der ausgeprägte Individualismus dieses Indianerstammes. Denn der höchste Wert ihrer Sozialphilosophie liegt in der Verwirklichung eines selbstbestimmten und jedermann offenstehenden Schicksals. Eine Einstellung, die man sonst nur der modernen Gesellschaft zuschreibt und auch als eine ihrer Errungenschaften feiert, wohingegen man die Vormodernen gerne in sozialen Bräuchen, Glaubensformen und Stammesbanden gefangen sieht.

Auch versucht Descola nicht, seine Subjektivität draußen zu lassen, denn diese ist Teil der Werkstätte des Ethnologen, die aus ihm selbst und seinem Verhältnis zu einer gegebenen Bevölkerung besteht. So äußert er auch einmal ein Gefühl, das ihn in seiner dreijährigen Forschungsarbeit öfters überkommen haben dürfte: „Man macht sich kein Bild von der unermeßlichen Langeweile, die uns manchmal in Capahuari überkommt, diesem winzigen Dorf ohne irgendeine Öffnung zur Außenwelt, wo Tag für Tag dieselben Gesichter daherkommen, um uns dieselben Geschichten zu erzählen.“

Dies trifft allerdings auf das Buch nicht zu. Und Descola hat nicht nur Mut zum erzählerischen, romanesken Stil, sondern auch zur ethnologischen Monographie: Es geht ihm um die Gesamtheit dieser Gesellschaft und ihres Lebenszusammenhangs. Damit unterscheidet er sich von manchen neueren Ethnologen, die, ausgehend von einer Kritik des ethnologischen Vorgehens (teilnehmende Beobachtung), eine solche umfassende Darstellung für unmöglich halten. Inspiriert hat er damit allerdings die Wissenschaftsanthropologie (z.B. Bruno Latour).

Das Buch ist übrigens auch ausgezeichnet übersetzt sowie mit zahlreichen Abbildungen und Fotografien, diversen Registern, Glossar und bibliographischem Essay als Nachspann versehen. Gustav Roßler

Philippe Descola: „Leben und Sterben in Amazonien. Bei den Jivaro-Indianern“. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Klett-Cotta, Stuttgart, 471 Seiten, 78 DM