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■ Die Arbeitsgesellschaft ist auch mit Appellen an die protestantische Ethik nicht mehr zu retten. Junge Menschen haben die Tugend der Orientierungslosigkeit entdecktDer Abschied vom sozialen Abstieg

Junge Menschen, perspektivlos, bedroht von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, geistern zuhauf durch unsere Medien. Und die Lösungen, wie dem Desaster beizukommen wäre, lassen dann meist auch nicht lange auf sich warten. Jüngst mußte an dieser Stelle sogar der alte Hegel zur Erklärung herhalten. Wer aber mit einer Anthropologie des 19. Jahrhunderts, mit dem Comeback von Arbeit, Fleiß und Disziplin, dem ganzen Gruselkabinett der protestantischen Arbeitsethik, auf den Nachwuchs losgeht, braucht sich über dessen Gleichgültigkeit kaum zu wundern. Die 18- bis 28jährigen nämlich haben etwas entdeckt, was man die Tugend der Orientierungslosigkeit nennen könnte. Sie machen Ernst mit dem, was ihnen die antiautoritäre Erziehung gepredigt hat. Einfamilienhaus und Karriere, Kleinfamilie und Auto haben als Lebensziele schon lange ausgedient. Ins Zentrum gerückt ist die Arbeit am Gesamtkunstwerk Ich, die Konstruktion einer nach ästhetischen Kriterien gestalteten „eigenen Biographie“. Und das auch jenseits des notorischen „Selbstverwirklichungsmilieus“.

Postmaterielle Lebensentwürfe sind kein Luxus weniger „Yuppies“. Die Suche nach dem „guten Leben“ jenseits der Karriere und vor allem jenseits der klassischen Angestelltenwelt hat zu einer ganz neuen Kultur der Arbeit geführt, die sich viel eher als Cluster sinnstiftender Aktivitäten verstehen läßt denn als arbeitsvertraglich geregelte Vollzeitbeschäftigung. Immer mehr junge Menschen beweisen, daß auch ohne Nine-to-five- Fron, ohne Arbeiterschweiß und Angestelltenidylle mit Gummibaum ein ausgesprochen erfülltes und produktives Dasein möglich ist. Wer's nicht glaubt, werfe mal einen Blick in ihre Terminkalender! Gerade aber aus der Vielzahl nicht unbedingt auf den Erwerb ausgerichteter Tätigkeiten – sei es das exotische „Hobby“, die Pflege freundschaftlicher Netzwerke, das Engagement für die Großtrappe oder gegen die Stadtautobahn – entstehen die neuen Berufe und Arbeitsplätze, ohne die eine Überwindung der Arbeitslosigkeit nicht denkbar ist. Die Zivilgesellschaft ist kein Luxus der saturierten 80er, sondern alltägliche Realität.

Vor allem bei der vermeintlich perspektivlosen jungen Generation hat die Ignoranz gegenüber den eingespielten Ritualen des bundesdeutschen Sozialkonsenses enorm zugenommen. Wer sich vehement für 13 Monatsgehälter, Schlechtwettergeld und Kilometerpauschale einsetzt, braucht mit dem Beifall eines immer größeren Teils der Jungen nicht mehr zu rechnen. So ergab eine Studie in NRW jüngst, daß die SPD bei 18- bis 34jährigen vor allem als „Partei des Bewahrens“ wahrgenommen wird. Das ist nicht unbedingt ein Kompliment.

Gleichzeitig existiert ein merkwürdiges Paradox. Denn gerade die Generation, die in bisher beispiellosem Wohlstand und materieller Sicherheit aufgewachsen ist, zeigt sich immer unwilliger, sozialstaatliche Regulatorien als entscheidende Basis dieser Gesellschaft anzuerkennen. Wem eine Grundsicherung selbstverständlich ist, dem erscheinen spezielle Besitzstände und Privilegien leicht als verzichtbarer Luxus. Das Getöse um den Sozialabbau geht deshalb vielfach an der Jugend vorbei. Gleichzeitig aber zeigen die Untersuchungsergebnisse von Jugendstudien mit schöner Regelmäßigkeit, daß Moral, so individuell die Vorstellungen darüber sein mögen, einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Nur: Daß die Abschaffung des Briefmonopols etwa unmoralisch sei, wird man eben kaum noch jemandem vermitteln können.

Und was ist schließlich schon die Krise der Rente gegen die Klimakatastrophe? Wo globale Risiken verinnerlicht wurden, erscheinen dann aber auch die ungesicherten Arbeitsverhältnisse der „neuen Selbständigkeit“ wenig bedrohlich. Selbst wenn sie von temporärer Arbeitslosigkeit begleitet sind. Tatsächlich findet sich nämlich im Gegensatz zum Weltuntergangszynismus der 80er heute ein hohes Maß an Idealismus, das Bedürfnis, „konkret etwas zu tun“. Idealisten aber sind um der Sache selbst willen tätig. Materielle Sicherheit ist da nur zweitrangig, und auch das Scheitern verliert seinen Schrecken. Das sind die Ingredienzen einer Zivilgesellschaft, die längst Form angenommen hat. Und das ausgerechnet in Zeiten grassierender Arbeits- und Perspektivlosigkeit! Am Ende müssen wir für einen nicht geringen Teil der 18- bis 28jährigen sogar den Abschied von der Idee des sozialen Abstiegs konstatieren. Wo der Aufstieg noch aussteht, bleibt die Gefahr des sozialen Abstiegs etwas Abstraktes.

Angesichts des immer unklarer werdenden Berufsprestiges neuer Arbeitsmodelle und kaum einzuordnender Tätigkeitscluster ist der gesellschaftliche Standort des einzelnen, vor dessen Hintergrund er Auf- oder Abstieg messen könnte, so vage wie nie zuvor. Schließlich – wer verliert schon alle seine Freunde, bloß weil er arbeitslos wird oder sich mit McJobs durchschlagen muß? Und wer nicht an Ratenzahlungen für den Mittelklassewagen, an Bausparvertrag und Rama-Familie gebunden ist, hat selbst bei geringerem Einkommen eine ganze Menge für den schnellen Konsum übrig. Doch im Gegensatz zu langfristigen Verpflichtungen sind die Bedürfnisse skalierbar. Wenn das Geld mal knapp wird, kommt eben statt Parmaschinken Eingeschweißtes von Aldi auf den Tisch. Nicht angenehm – aber eben auch kein wirkliches Desaster.

Das alles hat mit Manchesterkapitalismus wenig zu tun, schon gar nicht mit der drohend herbeigeredeten „anderen Republik“. Tatsächlich zeichnen sich im „arbeitslosen“ Milieu von Teilzeitselbständigen, McJobbern oder langzeitstudierenden Lebenskünstlern die Umrisse einer zivilen Arbeitsgesellschaft der Zukunft ab. Hier entstehen die Jobs und Unternehmen von morgen. Protestantisches Arbeitsethos aber, das Comeback von Disziplin, Ordnung und Sekundärtugenden sind reichlich untaugliche Versuche, die Probleme von morgen mit Ideen von vorgestern zu lösen. Konzepte aus der Mottenkiste von „New Deal“ und Arbeitsdienst taugen allenfalls für PDS-Veteranentreffen und sozialdemokratische Ortsvereine in der Provinz. Mit den Lebenswelten junger Menschen heute aber haben sie wenig gemein. Am besten sollte man sie gleich neben Hegel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigen. Johannes Goebel

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