Ausbruch aus der „soliden“Welt

Das Café Sperrgebiet in St. Georg betreut seit 1985 jugendliche Prostituierte. In einem Buch legt die Gründerin Isabell Tiede ihre Erfahrungen mit feministischer Sozialarbeit dar  ■ Von Barbora Paluskova

Mädchen, die in St. Georg auf den Strich gehen, wissen, daß ihr Job gefährlich ist. „Paß auf dich auf!“sagen sie zueinander, wenn sie sich in der Rostocker Straße trennen, und: „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder hier.“Etwas abseits vom Straßenstrich liegt hier das Café Sperrgebiet, 1985 als erste Beratungsstelle für minderjährige Prostituierte in der Bundesrepublik eingerichtet.

Isabell Tiede war Mitbegründerin des Café Sperrgebiet, das sie von 1985 bis 1993 leitete. Ihr wollte anfangs niemand glauben, daß in der reichen Hansestadt Kinder ihren Körper verkaufen. Inzwischen kann niemand mehr das Geschäft als Randerscheinung abtun, dennoch ist die Diskussion geprägt von Legenden und Halbwahrheiten. Mit denen räumt die Sozialpädagogin Tiede in ihrem Buch „Mädchenprostitution. Ein Versuch, aus dem Elternhaus auszubrechen“auf.

Etwa 1000 Mädchen unter 18 Jahren gehen in Hamburg der Prostitution nach, schätzt Tiede. Die Zahl steigt, das Einstiegsalter sinkt, und der gesellschaftliche Umgang mit Prostitution verändert sich. Kaum jemand ist heute noch entsetzt, wenn eine 16jährige anschaffen geht. Wenn ehemalige Prostituierte in Talkshows oder im Theater auftreten, vermitteln sie auch das Bild von Karrierefrauen und einen Eindruck, der die wahren Machtverhältnisse verschleiert. Ein Kapitel heißt „Der Kiez ist hoffähig geworden“.

Tiede hat während ihrer Arbeit im Café Sperrgebiet Hunderte von Mädchen betreut. Das Bild, das sie von dem Leben der minderjährigen Prostituierten zeichnet, wirkt differenziert und glaubwürdig. Sie schildert, warum die Mädchen ins Milieu kommen, welchen Konflikten sie dort ausgesetzt sind und was sie trotz allem dort hält. Sie wendet sich entschieden gegen das Märchen vom kleinen Mädchen, das gezwungen wird, auf den Strich zu gehen. Die Öffentlichkeit müsse sich damit auseinandersetzen, meint Tiede, daß es Kinder gibt, die den Kiez der „soliden“Welt vorziehen. Sie haben sich entschieden, ohne ihre Eltern erwachsen zu werden, und ihr größter Traum ist es, unabhängig zu sein. Er endet oft als Alptraum: Die meisten minderjährigen Prostituierten sind drogenabhängig, ein Drittel ist HIV-positiv, ein weiteres Drittel obdachlos.

Das Café Sperrgebiet bietet 100 Quadratmeter Ruhe vor den Freiern, den Zuhältern und der Polizei. Die Mädchen können jederzeit gehen, denn prozeßhafte und feministische Sozialarbeit heißt, Hilfe anzubieten und Ablehnung auszuhalten. Das sei kein Wundermittel gegen Kinderprostitution, sagt Isabell Tiede. Trotzdem sei es der einzig gangbare Weg, denn niemand kann den Mädchen die Verantwortung für ihr Leben abnehmen. In einer Zeit, da sich die Schere zwischen reich und arm immer weiter öffnet, belegt Tiede in ihrem Buch auch, daß Sozialarbeit nicht zu vordergründigem Krisenmanagement verkommen darf.

Isabell Tiede: Mädchenprostitution. rororo, 12,90 Mark