Lieblos in die Ebene gepappt

In Moskau leben von den offiziell neun Millionen Einwohnern nur noch 500.000 in der Innenstadt, alle übrigen in den „Mikrorayons“  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der Architekt Wjatscheslaw Glasytschew und einige seiner Freunde beschlossen 1991, in Moskau ein „internationales Seminar für städtisches Milieu“ zu veranstalten. Zuerst einmal führten sie die westlichen Kollegen auf Dachböden und in Keller heruntergekommener Plattenbauten und machten sie mit deren BewohnerInnen bekannt. Wie Glasytschew sich erinnert, stöhnten seine westlichen Kollegen: „Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Ihr Ausruf bezog sich nicht etwa auf die schlechte Bausubstanz – so etwas kannten sie. Sie staunten vielmehr, weil hier keineswegs nur Arme, Arbeitslose oder minderqualifizierte Arbeitskräfte lebten. Zum Beispiel wohnten da Tür an Tür ein ewig betrunkener Hilfsarbeiter mit fünf Kindern und ein Universitätsprofessor mit einer Bibliothek voller Raritäten. Letzterer zeigte sich ob seiner Lebensumstände guter Dinge.

Für den sowjetischen Menschen war es nämlich nicht wichtig, was für eine Wohnung er hatte. Er fühlte sich als König, sobald er überhaupt in abgeschlossenen vier Wänden lebte. Wenn die Bevölkerung der russischen Hauptstadt trotz ebenso strikter wie unrealistischer Zuzugsbegrenzungen seit 1917 von 1,5 Millionen auf heute offizielle neun Millionen gestiegen ist, so vor allem dank der sogenannten „Limitschiki“, billiger Arbeitskräfte aus dem weiten Land, die in Moskau nicht polizeilich gemeldet waren und deren Anspruch sich höchstens auf eine Pritsche im fabrikeigenen Wohnheim erstreckte. Auf der träumten sie dann oft ein Dutzend Jahre lang davon, dank Heirat oder treuer Dienste zu MoskauerInnen zu werden. Von den offiziell neun Millionen BürgerInnen der Hauptstadt wohnen heute nur noch 500.000 in der Innenstadt, alle übrigen in den „Mikrorayons“.

Da in Moskau der Wind meist von Westen bläst, werden die westlichen Bezirke als „prestischnye“ bezeichnet. In den heißen Monaten leiden die Bewohner hier nicht unter dem höllischen Sommer- Smog. Inmitten des Fertigbauviertels Kunzewo hat Präsident Jelzin seine Stadtresidenz. Nebenan wohnen zwar auch gewöhnliche Sterbliche, aber doch wesentlich mehr Duma-Deputierte, Generäle und Diplomaten als anderswo. Die Hochhäuser in Kunzewo schmiegen sich an die Hänge eines Hügelmassivs, aus den oberen Etagen fällt der Blick auf das Flußtal der Moskwa.

Mieter peppen selbst ihre Wohnnungen auf

Am anderen Ende der Stadt und der Mieterwünsche liegt die Schlafstadt Bratejewo. Dort findet der Schulsport wegen der Schwermetallbelastung der Luft nur in der Halle statt. Die Häuser wurden lieblos in die Ebene gepappt.

Nach 1991 konnten die meisten MoskauerInnen für ein Butterbrot an Verwaltungsgebühr ihre Wohnung als Privateigentum registrieren lassen. Die traditionellen staatlichen Wohnungsverwaltungen sind dieser Entwicklung keineswegs gewachsen. Die Rohre und Leitungen in Bauten aus den siebziger Jahren rosten heute deshalb einträchtig mit denen in Vor- und Nachkriegssiedlungen um die Wette. Trotz der schleichenden Wertminderung werden fleißig Wohnungen von Privat an Privat verkauft. Die Erdgeschosse der Betonkästen ziehen Geschäftsleute und Bankiers an.

In den höheren Etagen kommt es schon einmal vor, daß übereinanderliegende Wohnungen durch Treppchen zu einer Art Penthouse verbunden werden. Auch MieterInnen, die nicht so hoch steigen, peppen ihre Standardbehausung durch Um- und Einbauten auf – vor allem in Bad und Küche. Wenn früher die Schrankwand den Inbegriff privilegierter Lebensart darstellte, so ist es heute die Jacuzzi- Wanne. Während sich die russische Gesellschaft diversifiziert, haben Baumärkte und Do-it-yourself-Läden ihren Siegeszug durch Moskau angetreten. Und so manche der vielen Wohnungen hinter ein- und derselben Betonfassade gewinnt ein neues Gesicht.