Die „Insel der Hoffnung“ ist in Gefahr

In einer Moskauer Villa haben obdachlose Jugendliche ein Zuhause gefunden. Doch jetzt beanspruchen zwei staatliche Sicherheitsdienste das Haus, mit Tricks und Polizeischikanen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Von der Hoffnung trennt die Verzweiflung bekanntlich nur eine Haaresbreite. In diesem Zustand befindet sich heute das christliche Mädchenheim „Insel der Hoffnung“ (vgl. taz vom 28. Januar). Die Hälfte der Mädchen, die in diesem ersten nicht staatlichen Moskauer Heim für obdachlose Jugendliche Unterkunft und Verständnis fanden, sitzen heute in der gefürchteten polizeilichen Spezialaufnahmestation für streunende Kinder. Nach den ersten Hausdurchsuchungen wurde das Heim erneut am 10. Februar in der russischen Hauptstadt von der Anti- Terror-Einheit Omon gestürmt – einer gemischten Truppe aus zwanzig Uniformierten und schwerbewaffneten Zivilisten. 13 anwesende Mädchen zwischen acht und achtzehn Jahren und vier Jungen unter zehn transportierten die Ordnungshüter ab.

Vorübergehend festgenommen wurden auch der Direktor des Heimes und Vorsitzende der russischen Christlich-Demokratischen Union (CDU), Alexander Ogorodnikow, sowie Alexander Podrabinek, Chefredakteur des heute einzigen russischen Menschenrechtsblattes, Express Chronika. Bereits einmal, im Frühling 1996, gab es einen Versuch, das Haus auf diese Weise zu räumen. Damals hat Sergej Kowaljow – als Beauftragter des russischen Präsidenten für Menschenrechtsfragen – das Schlimmste verhindert. Handhabe für den polizeilichen Überfall ist eine Anklage gegen den Chef der russischen Christdemokraten wegen Hausbesetzung. Allerdings verfügt Ogorodnikow über zwei Urkunden, die die repräsentative Villa aus dem 17. Jahrhundert als Besitz seiner Partei ausweisen. Im Jahre 1991 erwarb die CDU auf einer Auktion das Miet- und Vorkaufsrecht für die Villa. Am 24.1. 1995 hielt Moskaus Oberbürgermeister Luschkow als Vermieter die Verwaltung an, binnen zweier Wochen die russische CDU als Dauermieter zu registrieren. Aus den zwei Wochen sind zwei Jahre geworden.

Ogorodnikow berichtet, der Untersuchungsrichter, der den Durchsuchungsbefehl gegenzeichnete, habe ihm ganz offen mitgeteilt: „Um Ihre Villa bewerben sich zwei Machtstrukturen“ (sprich: staatliche Sicherheitsdienste). Der Einspruch Ogorodnikows gegen die Räumung der Villa liegt seit mehr als vier Wochen unbearbeitet beim Staatsanwalt.

Unter starkem Druck stehen in diesem Falle offenbar die Medien. Ein privater Moskauer Fernsehkanal brachte an ein und demselben Tag fünfmal eine von der Miliz aufgenommene Version des Gebäudesturmes. Ein Redakteur der unabhängigen Fernsehstation NTV ließ am Tatort drehen, beschied Ogorodnikow aber anschließend, daß das Material aufgrund gewisser „Anweisungen“ nicht gesendet werden könne. Die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda denunzierte Ogorodnikow als „Menschenrechtler und bekannte Persönlichkeit – besonders im Westen“. Und fügte erschwerend hinzu, daß die Mädchen im Heim in „getragenen amerikanischen Kleidern“ herumlaufen und daß sich Ogorodnikow „unter dem Schutz hochgestellter Amerikaner“ befinde. Wahr ist, daß Präsident Clinton dem Heim während seines Moskau-Besuches Anfang letzten Jahres eine kurze Stippvisite abstattete und daß die Schweizer Botschaft eine Teilrenovierung finanzierte. In dem Artikel wird es Ogorodnikow ferner als unsittlich angelastet, daß auch Jungen in dem Heim wohnten. In drei Fällen handelt es sich um die kleineren Brüder von Insassinnen. Geschwister also, die nichts und niemanden auf der Welt haben. Ein vierter Junge, ein siebenjähriger Knirps, stand eines Tages auf der Schwelle. Seit ihm Passanten die Tür der Villa zeigten und sagten „da kannst du bleiben“, wollte er dort nicht mehr weg. Ihm steht nun der Kreislauf von Gewalt und Unterdrückung bevor, der für die etwa 60.000 streunenden Moskauer Jugendlichen und Kinder gewöhnlich im Polizeigewahrsam beginnt.

Von den Zuständen in der Spezialaufnahmestation der Miliz zeugen Spuren physischer Mißhandlungen bei vielen Kindern und Jugendlichen, die von dort entlassen wurden. Bände spricht die Tatsache, daß eine Gruppe von Duma- Deputierten aus den Parteien „Demokratisches Rußland“ und „Jabloko“ dort gar nicht erst eingelassen wurden, als sie die inhaftierten „Hoffnungs-Insel“-Mädchen besuchen wollten – obleich doch alle Deputierten per Gesetz über das Recht der Einsichtnahme in sämtliche staatlichen Institutionen verfügen. Aufgrund einer Klage konnten acht der Mädchen bislang wieder aus den Klauen der Miliz befreit werden.

Ogorodnikow geht davon aus, daß Moskaus Oberbürgermeister Luschkow, der ihm seinerzeit das Mietrecht für die Villa garantierte, von der weiteren Entwicklung um das Haus einfach nichts wissen will: „Für Luschkow hat der Wahlkampf um das Präsidentenamt schon begonnen. Zu diesem Wahlkampf gehört eine Konzeption von Moskau als Schaukästchen der reichen Russen. Da paßt nicht hinein, was nach Armut aussieht, erst recht keine obdachlosen Kinder.“ Ogorodnikow selbst beschied man bei seiner Entlassung, er habe sich künftig als Zeuge zu betrachten, als Zeuge seiner eigenen Hausbesetzung.

Eine kleine Hoffnung bleibt. Der Kongreß der russischstämmigen Amerikaner und Abgeordnete des US-Kongresses haben sich an Präsident Clinton gewandt. Clinton soll das Thema am Wochenende auf dem Gipfeltreffen mit Jelzin zur Sprache bringen.