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: Berlin Verlag is ze best of 1996! Und feiert sich heute selbst im LCB

Ja, die Kulturindustrie: Bislang gab es nur das „Auto des Jahres“, und immer wieder ist es ein „Truck des Jahres“, der die freie Fahrt zur Fluchorgie verkommen läßt, aber jetzt gibt es auch den „Verlag des Jahres“, und der heißt nach der Stadt des Jahrhunderts Berlin Verlag. Heute feiert er die von wem auch immer vergebene Auszeichnung im Literarischen Colloquium am Wannsee: Zwei Autoren des Verlages, Ingo Schulze und Martin Mosebach, werden aus diesem Anlaß aus ihren derzeit entstehenden Büchern lesen.

Ingo Schulze, Jahrgang 1962, aus Dresden gebürtig, in Berlin lebend, debütierte vor zwei Jahren fulminant mit „33 Augenblicke des Glücks“. Die Episoden des Buches spielen in St. Petersburg und wurden zum Glück des Jahres, weil abgedreht und von Preisen reich gekrönt. Ziemlich wild geht es in Schulzes Rußland zu, auch merkwürdig, auch lustig, auch derbe. Heute abend liest er aber Geschichten aus Deutschland, vornehmlich Ost. Womöglich wird es um die lange Dauer des Unglücks gehen, denn wie jeder, der Goethe im Original lesen kann, weiß, ist das Glück in Wahrheit nicht bei uns daheim, sondern in Italien. Dort spielen Martin Mosebachs Geschichten. Er war gerade sechs Jahre auf Capri, das die Unglücklichen als Aufenthaltsort der Blauen Grotte sowie als Eis am Stiel kennen.

Martin Mosebach hat schon sechsmal mehr Bücher als Ingo Schulze veröffentlicht, ist aber viel unberühmter, so soll er sich selbst vorstellen: „Geboren 1951 in Frankfurt/Main, herangewachsen in einem großbürgerlichen Haus, studierte Jura, legte 1979 das 2. Staatsexamen ab, erhielt Anfang 1980 den Förderpreis der Jürgen-Ponto- Stiftung, deren literarischer Sektor von Golo Mann betreut wurde.“ Auf diesem Niveau bewegen sich auch seine Geschichten. Nach seinem letzten Roman „Westend“ veröffentlichte er zwei Erzählbände, in denen er meisterhaft die Balance zwischen Kurz- und Langeweile hält. Auf Mittelwelle also gleiten seine Texte durch Hessen, Italien und einen irgendwie um die Jahrhundertwende angesiedelten Raum. Unaufgeregt schildert er unaufregende Begebenheiten, in denen weder Gewalt noch Sex noch sonstige Spannungszustände vorkommen, die man teils aber doch gerne liest. Er sei ein „unnahbar erscheinender Kopfmensch“, heißt's im Lebenslauf.

Ingo Schulze dagegen ist ein sehr nahbar erscheinender Sinnenmensch (das legt jedenfalls sein Erstling nahe), woraus sich heute abend eine gewisse Spannung ergeben könnte. Gepflegte Unterhaltung in bürgerlicher Prosa ist gewiß. Der Neuberliner Gustav Seibt stellt die beiden Autoren vor. Der Wannsee ist eisfrei, aber zum Schwimmen noch viel zu kalt. Iris Hanika

Heute, 20 Uhr, Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5