Schrei nach dem Henker

Gesichter der Großstadt: Nach den Morden an Kim und Natalie fordert Christel Daniel aus Pankow die Einführung der Todesstrafe und mehr Geld für Rentner  ■ Von Jens Rübsam

Hier in der kleinen Pankower Altbauwohnung in der Würtzstraße 15 ist kein Platz zum Denken. Die Rollos sind heruntergezogen – auch tagsüber –, die Stube erstickt in Dunkelheit. An der Wand über dem Sofa hängt ein globiges Hirschgeweih und daneben ein gerahmtes Bild von Bezirksbürgermeister Richter. Überall in der Wohnung hängen irgendwelche Bilder, drei von Jörg Richter, und ganz viele in Bonbonfarben. „Wenn man älter wird“, sagt Christel Daniel, „fängt man an, Kitsch zu lieben.“

Auf dem grünen Sessel hockt ein bulliger Plüschteddy, auf dem Wohnzimmertisch stehen braune Häschen, ein weißer Hahn mit bunten Federn und ein prallgefüllter Naschteller: Oster-Gelee- und Schokoringe. Die Maikäfer in Silberpapier sind heruntergepurzelt, sie krabbeln jetzt über das weiße Spitzendeckchen. Auf dem Tisch an der Wand, ganz hinten in der Ecke, lagert ein Telefon, „eine Attrappe“. Geld zum Telefonieren hat Frau Daniel nicht.

Es riecht nach Buletten vom Vortag und nach HB. Christel Daniel raucht Kette, zwar hat das die Ärztin verboten, wegen „den Pilzen an der Niere“. Auch Gerhard-Robert, der Sohn in den Dreißigern, raucht Kette. Was soll er sonst machen? Arbeitslos ist er und deswegen jeden Tag bei Mama. Gegen sechs in der Früh' kommt er rüber von Buch nach Pankow, „damit Mutti nicht allein ist“. Er drückt sein Gewicht („Ich bin das dickste Kind in der Familie“) in die Couch, frühstückt erst mal richtig und trinkt literweise Kaffee. Dann trotzen Christel und Gerhard-Robert Daniel der Zeit – mit Offiziersskat und Fernsehkieken, und zwischendurch lesen sie die Bild-Zeitung. Gegen sechs Uhr am Abend geht Gerhard-Robert nach Hause, und Christel Daniel schaltet noch einmal den Fernseher an. Um halb acht, nach „heute“, ist der Tag zu Ende. Dann geht sie ins Bett und schläft bis um halb drei. Dann wird der Tag von gestern der von heute.

In diese Welt schleichen sich Anfang Januar die Fernsehbilder aus dem niedersächsischen Varel und dem bayerischen Epfach. Bilder von der 13jährigen Kim Kerkow, die entführt, sexuell mißbraucht und ermordet worden ist. Bilder von der siebenjährigen Natalie Astner, entführt, mißbraucht und ermordet. Die Bild-Zeitung berichtet in Serie. Christel Daniel schneidet aus und heftet ab. Jetzt fordert sie die Wiedereinführung der Todesstrafe für alle Kinderschänder. 237 Pankower haben ihre Unterschrift gegeben. Ein Brief ging an Innenminister Kanther und einer an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Christel Daniel sitzt vor den Zeitungsausschnitten und speit Wut. „Den Schändern müßte das Ding abgeschnitten und in den Hals gesteckt werden, bis sie verrecken.“ Oder: „Deutschland muß zu einer Kultur zurückfinden, sonst verkommt, verdreckt und versaut die Gesellschaft.“ Gerhard-Robert sitzt daneben und speit auch: „Rübe ab! Die kommen doch sowieso wieder nach drei Jahren raus und machen weiter mit dem Morden.“ Oder: „Ich würde die persönlich hinrichten.“ Gerhard-Robert hat sich schon einen Namen ausgedacht: „Der Meisterhenker von Pankow.“

Über die Osternascherei legt sich eine Decke blinden Hasses. „Mama ist nur für Gerechtigkeit“, meint Gerhard-Robert.

Vor den Ausschnitten der Bild- Zeitung ist Christel Daniel nicht sitzen geblieben. Sie ist rausgegangen, durch den Kiez marschiert, sie hat die Schreie nach dem Henker zum Bäcker, zu Eurospar, zu Tip und zu Obi und auf den Pankower Markt getragen. Sie hat Unterschriften gesammelt, um Politikern, Medizinern und Juristen („Die machen sich alle schuldig“) Druck zu machen. „Die Politiker tun doch nichts. Die Mediziner stellen den Triebtätern irgendwelche Gutachten aus, so daß sie nach kurzer Zeit wieder freikommen. Und die Juristen erlauben, daß solche Leute ihre Knastwände mit Kinderbildern tapezieren können.“ Das dürfe doch alles nicht wahr sein, schimpft Christel Daniel. Mit ihrer Meinung ist die 64jährige nicht allein im Kiez. Ein Nachbar, „ein netter älterer Herr“, hat ihr geschrieben: „Unsere Scheißjustiz. Es gibt nur einen Schutz vor diesen Bestien: hinrichten!“

Nachdenken will Christel Daniel über ihre Forderung, die Todesstrafe einzuführen, nicht. Sie will sich nicht Fragen stellen, sie will ihren Bauch platzen lassen. Frau Daniel, würden strengere Gesetze wirklich helfen, Kindermorde zu verhindern? Würde durch längere Gefängnisstrafen den Tätern der Trieb genommen werden? Würde man mit der Todesstrafe dem Staat nicht einen Freipaß geben, beliebige Todesurteile aussprechen zu können? Ist es nicht so, daß Triebtäter eine psychische Störung haben, statt am Geschlechtsteil zu leiden? Ist es nicht auch so, Frau Daniel, daß die Boulevard-Blätter nach Blut lechzen, weil sich Blut eben besser verkauft, weil Blut nur die eine, die emotionale Ebene, im Menschen anspricht? Hat nicht jeder, Frau Daniel, hat nicht auch ein Täter das Recht auf eine zweite Chance?

„Nein, nein, nein.“

Kein Geld für die psychiatrische Behandlung von Kinderschändern. „Die Politiker müssen für uns Rentner was tun“, meint Christel Daniel. Mit 942 Mark Hinterbliebenenrente, die sie bekommt, sei nicht auszukommen. „Und zur zweiten Chance“, will Gerhard- Robert mal sagen: „Hat denn die tote Kim eine zweite Chance?“

Nach Artikel 102 des Grundgesetzes sei die Todesstrafe abgeschafft, hat Innenminister Kanther Christel Daniel geantwortet. Allerdings stelle sich die drängende Frage, ob alles getan wurde, um unsere Kinder vor den Tätern zu schützen. Aha!