Königsweg zur neuen Stadt oder Lebenslüge?

taz-Serie „Brennpunkt Masterplan“ (Teil 3): Durch nachhaltige Stadtentwicklung soll der steigenden Abwanderung der Berliner ins Umland begegnet werden. Das Wanderungsverhalten straft diese Absicht freilich Lügen  ■ Von Uwe Rada

Die Berliner Stadtkante, jene durch die historische Situation bedingte eindeutige Trennung zwischen Stadt und Umland, sei eine für eine Großstadt einmalige Situation. Die Feststellung, die zugleich auch warnende Mahnung vor drohender Zersiedelung sein sollte, sprach das Mitglied der Planungsgruppe Potsdam, Cord. H. Bahlburg, bereits auf der fünften Sitzung des Stadtforums aus.

Das Umland, dieses „System von Städten und Landschaften, die sich gegenseitig durchdringen, der Reichtum an Biotopen, die schwach entwickelten Gemeindezentren sowie ein radial strukturiertes Verkehrssystem müßten nachhaltig gegen „Dienstleistungswüsten“ und „Großsiedlungen auf der grünen Wiese verteidigt werden.

Das war im Juni 1991. Heute, knapp sechs Jahre später, kündet ein Blick in die Sonntagsausgaben der Tageszeitungen vom zweifelhaften Erfolg dieses Vorhabens. Wohnparks wie Bernau-Friedensthal, Rüdnitz oder Nauen haben die Stadt umzingelt. 142 Wohnparks im nahen Umland zählt allein die Zitty-Broschüre „Häuser und mehr“. Den 70.000 seit der Wende in Berlin gebauten Wohnungen stehen damit 22.000 im engeren Verflechtungsraum gegenüber, ein Zustand, den der Stadttheoretiker und Mitverfasser des Berliner Masterplans, Dieter Hoffmann-Axthelm, als „instabil“ bezeichnet. Ursache für diese Instabilität sei aber nicht nur der Wohnungsbau im Umland, sondern auch am Berliner Stadtrand, in den sogenannten neuen Vorstädten wie Karow-Nord oder Buchholz sowie den städtebaulichen Entwicklungsgebieten.

Sechs Jahre nach Bahlburgs Warnung vor der Zersiedelung setzt Hoffmann-Axthelm deshalb auf eine radikale Umkehr. Mit einer „nachhaltigen Stadtentwicklung“, der Schwerpunktsetzung auf die Innen- statt der Außenentwicklung soll der wachsenden Stadtflucht, der „fühlbaren Abwanderung aus der Innenstadt ins Umland“ (Hoffmann-Axthelm) entgegengewirkt werden. Damit, so Hoffmann-Axthelm, habe man die einmalige Chance zur Modernisierung der Stadt, „indem sich Stadtökologie, Stadtwirtschaft, wirtschaftlicher Strukturwandel und mentale Neuorientierung der Berliner impulsgebend überschneiden“.

Nachhaltigkeit, das klingt klug und ist sogar mehrheitsfähig. „Nachhaltige Entwicklung ist und bleibt auch für Städte die einzige Chance“, posaunte selbst Bundesbauminister Klaus Töpfer (CDU) auf der UN-Siedlungskonferenz Habitat II. in Istanbul im Juni vergangenen Jahres, obwohl beim derzeitigen Tempo der Versiegelung in der Bundesrepublik spätestens im Jahre 2080 kein Grashalm mehr übrigbleiben wird. Doch was ist eigentlich nachhaltige Stadtentwicklung, was will man tun, was verhindern? Vor allem aber: Was tun oder verhindern die Masterplaner, wenn sie zusätzlich zum vorhandenen Baubestand der Innenstadt 4,75 Millionen Quadratmeter in den Stadtplan zeichnen?

Folgt man den Argumenten Hoffmann-Axthelms, so liegen die Ursachen für den Exodus aus Berlin vor allem in den „schlechten Lebensbedingungen der Innenstadt – Lärm, Schmutz, Stau“. Durch die bauliche Verdichtung der Innenstadt, durch Reurbanisierung der „Stadtbrachen“ im historischen Zentrum und durch den Rückbau überdimensionierter Verkehrsschneisen will Hoffmann-Axthelm jenes städtische Ambiente schaffen, mit dem die Berliner Mitte als Wohnort wiederentdeckt werden soll. „Eine nachhaltige Stadtentwicklung“, sekundiert auch der zuständige Senator Peter Strieder (SPD), „hat aus verkehrstechnischen, sozialen und stadtkulturellen und ökologischen Gründen eine Stärkung des innerstädtischen Wohnens zur Voraussetzung.“ Das Gebot, so Strieder, heiße Verdichtung. Von den 2,5 Millionen Quadratmetern Bruttogeschoßfläche, die allein in der City-Ost vorgesehen sind, sollen deshalb 60 Prozent dem Wohnungsbau vorbehalten werden. Das macht, folgt man der Rechnung des Stadtsoziologen und Stadtplaners Harald Bodenschatz, ein Volumen von 13.000 Wohnungen. Dazu könnten noch einmal 18.000 in der City- West kommen.

In der Tat haben die „Wanderungsverluste“, wie es im Statistenjargon heißt, im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Bis zum Jahr 2010, so prognostizierte es das Eduard-Pestel-Institut für Sozialforschung im Auftrag der Landesbausparkassen, würden 300.000 Einwohner die Flucht aus der Stadt ins Grüne antreten – für die Berliner Politiker nachgerade eine Horrorvorstellung, geht doch mit jedem Bewohner auch ein potentieller Steuerzahler verloren.

Wirft man freilich einen Blick auf die Details der Wanderungsbewegung ins Umland, so fällt auf, daß es vor allem Familien mit Kindern sind, die der Innenstadt und den Außenbezirken den Rücken kehren. Dazu kommt nach Beobachtung von Günter Fuderholz, dem für den Wohnungsbau zuständigen Abteilungsleiter der Senatsbauverwaltung, daß sich die Randwanderung nach außen auf das jeweils nächstgelegene Wohnungsbaugebiet konzentriere. Für Fuderholz sind deshalb die großen Vorstädte wie Karow-Nord oder Buchholz Garant dafür, daß nicht noch mehr Berliner nach Brandenburg abwandern. Eine Konzentration der Wohnungsbaupotentiale auf die Innenstadt, wie es im Masterplan vorgesehen ist, wäre dagegen, so Fuderholz, ein „Abwanderungsprogramm“.

Familien davon abzuhalten, aus der Innenstadt wegzuziehen, ist freilich ohnehin nicht Strieders erstes Gebot. „Es wäre ein falscher Eindruck, daß wir in der Berliner Mitte in erster Linie eine Familiensiedlung konzipieren“, sagt Strieder. Auch die Stadtplanung müsse schließlich auf die Tatsache reagieren, daß in Berlin mittlerweile fast die Hälfte aller Haushalte Single- Haushalte seien. Dies entspricht auch der Aussage seines Staatssekretärs Stimmann, der in der Berliner Mitte vor allem „Stadtbürger“ mit Handy und Laptop sehen möchte. Die Folge: Grünflächen sollen zugebaut werden, weil der „neue Stadtbürger“, so Stimmann, ohnehin eine Reise nach Mallorca dem Aufenthalt im „Sanitärgrün“ vorziehe.

Ob das Wohnungsbauprogramm für Ein- und Zweipersonenhaushalte angesichts des Wanderungsverhaltens der Bewohner tatsächlich eine Antwort auf die Suburbanisierung, die Zersiedelung des Umlandes, ein Programm zum Erhalt der Stadtkante ist, ist damit mehr als fraglich. Dies gilt um so mehr, als der Bau neuer Wohnsiedlungen ohnehin nur einen geringen Teil der Suburbanisierung ausmacht, der Bau von Einzelhandelszentren oder Gewerbegebieten dagegen um so mehr. Als Abschied von den gebauten Lebenslügen der Moderne hat der Architekturkritiker Michael Mönninger die mit dem Masterplan beabsichtigte Verdichtung genannt. Spätestens hier bedarf die Diskussion um den Begriff der Nachhaltigkeit – wie jede Diskussion um zunächst sozial und politisch wohlklingende Begriffe – des genaueren Hinsehens. Der an der TU-Berlin tätige Architektursoziologe Werner Sewing sieht den Masterplan sogar als „vielleicht neue“ Lebenslüge – jene also der Nachhaltigkeit: „Soziale Prozesse, Verhaltensänderungen und politische Lernfähigkeit werden mit dem Plan nicht beeinflußt“, sagt Sewing. Daher werde „die Abwanderung von Mittelschichtsfamilien in den Speckgürtel weitergehen“.

Für den Stadtplaner Harald Bodenschatz zeigt sich in der Bauflächenmobilisierung des Masterplans ohnehin vor allem „ein Festhalten an einer überzogenen Wachstumsplanung“. Damit, so Bodenschatz, reihe sich der Plan in die Berliner Planungspolitik der Jahre 1991 bis 1993, „einer Zeit blinder Wachstumsgläubigkeit“. Hätte man das Leitbild der Nachhaltigkeit ernst genommen, kritisiert Bodenschatz, hätte man Megaprojekte wie die Hochhausplanung am Alexanderplatz nicht einfach „nachrichtlich“ übernehmen dürfen.

Vor allem aber stelle sich die Frage, wo denn die neuen Bewohner, die Stadtbürger des reurbanisierten historischen Zentrums herkommen sollten. „Wird“, so fragt Bodenschatz, „daher nicht unter dem Deckmantel der baulichen Verdichtung ... eine soziale Entmischung des Zentrums vorbereitet, ein ,Aufräumen‘ des Zentrums zugunsten einer einkommensstarken sozialen Schicht, die dort arbeitet, wohnt und ihre Freizeit gestalten läßt?“