■ Selbstmord kostet das Leben – zuzüglich Mehrwertsteuer
: Summa summarum 12.278 Pfund

Als das Christentum sein liebes Europa noch im eisernen Griff hatte, wußte die reine Kirchenlehre von keinem schlimmeren Verbrechen als der Sünde wider den Heiligen Geist, der Verzweiflung nämlich. Wer der Melancholie anheimfiel, zweifelte nicht bloß an sich, sondern auch an Gott. Wen die Melancholie gleich so heftig quälte, daß er sich das Leben nahm, hatte nichts mehr zu lachen. Die Feuer der Hölle erwarteten ihn, und zum Zeichen der übermenschlichen Schuld, die er da auf sich lud, wurde der Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer bestattet. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.

Wenn aber die Hand, die einer gegen sich führte, unglücklicherweise fehlte, wurde über den armen Sünder zu Gericht gesessen. Das Urteil war festgelegt: Auf Selbstmord stand die Todesstrafe. Schreckliches, finstres Mittelalter!

Christopher Bryant lebte nur für seine Arbeit. Kein Tag, an dem der Anwalt nicht schon morgens um sieben im Büro erschienen wäre. An Feiertagen kam er selbstverständlich auch, und Urlaub kannte er schon gar nicht. In der Anwaltskanzlei James Beauchamp in Birmingham wußte man um Mr. Bryants hingebungsvolles Wirken. So sehr konnte man sich dort auf die Anwesenheit und die Dienstauffassung Mr. Bryants verlassen, daß man sich am 18. November 1994 sogleich um ihn zu sorgen begann. Christopher Bryant war nicht zur Arbeit erschienen, um sieben nicht, aber auch nicht um acht oder neun. Er kam einfach nicht.

Ein Kollege wurde ausgewählt und zu Mr. Bryant nach Hause geschickt. Der Kollege klopfte an der Tür, aber es wurde ihm nicht aufgetan. Der Kollege wandte sich an die Polizei und ließ die Tür aufbrechen. Der Kollege marschierte mit der Polizei stracks in Mr. Bryants Haus und fand endlich den Besitzer und auch den Grund für dessen neuerdings mangelnde Arbeitsmoral: Christopher Bryant hatte sich aufgehängt.

Die in solchen Fällen übliche Untersuchung ergab, daß Mr. Bryant ein „Workaholic“ gewesen sei und an „Angestelltenstreß“ gelitten habe, der schließlich zu seinem Selbstmord geführt hatte.

Mr. Bryant wurde nun keineswegs posthum ein Ehrentitel wie „Mitarbeiter des Monats“ verliehen, vielmehr erhielt seine 80jährige Mutter, nach Ablauf der Trauerzeit immerhin, ein Schreiben von der Kanzlei Beauchamp, „geschäftliche Unkosten, die Hinterlassenschaft des verstorbenen Mr. Bryant betr.“. Der Brief ging ins Detail:

– Für vergebliches Klopfen an Mr. Bryants Tür, das Herbeiholen von Polizeikräften, die gemeinschaftliche Auffindung der Leiche. 9 Arbeitsstunden à 150 Pfund = 1.350 Pfund.

– Zwei Arbeitsstunden für die Identifizierung des Toten in der Gerichtsmedizin = 300 Pfund.

– Eine Arbeitsstunde, um der Mutter das plötzliche Ableben ihres Sohnes mitzuteilen = 150 Pfund.

– sowie div. Briefe, Schreiben, Telefonate, alles selbstverständlich zum Besten des seligen Mr. Bryant und den Gebührensätzen seiner Kanzlei = 5.799,50 Pfund.

Macht summa summarum, Moment, hier noch die gesetzliche Mehrwertsteuer, macht also 12.278,16 Pfund. Mit freundlichen Grüßen.

Ja, das Mittelalter! Aber man muß gerecht sein: Eine Beschwerde bei der Anwaltskammer veranlaßte Messrs. Beauchamp schließlich nach einigem Hin und Her und „mit Rücksicht auf den Kummer von Christophers Familie“, von der Beitreibung der Unkostenrechnung abzusehen. Umsonst, sagte meine Großmutter immer, umsonst ist bloß der Tod. Willi Winkler