Verschleppt, verkauft, verstoßen

Mirko wurde als Kind in Italien zum Dieb ausgebildet. Jetzt will er sein Leben ändern. Sein Traum: Somalia, wo sein ehemaliger Sozialarbeiter heute lebt  ■ Aus Rom Werner Raith

Die Ähnlichkeit mit früher ist erst zu erkennen, als er mir das Nähere erklärt: „Wir sind uns schon mal begegnet“, sagt er einfach, nachdem er mich ein paarmal fixiert hat. „An der Piazza Esedra. Vor Jahren.“ Er streckt mir seine Linke hin, die Rechte ist mit einem dicken Verband umwickelt. Das Lächeln deutet er nur an, eine dicke Kruste links neben der Unterlippe behindert ihn. „Ich hatte versucht, Ihnen den Geldbeutel zu klauen. Und was fehlt Ihnen?“

Tatsächlich: Das ist Mirko. Jedenfalls hat er sich so genannt, damals. Er steht auf dem Korridor des Krankenhauses, in dem auch ich mich behandeln lasse, und begegnet mir mit einer Offenheit, die mich fast verlegen macht. Vor sechs Jahren hatte er mich zusammen mit zwei anderen Jungen angerempelt, als ich gerade eine Fahrkarte kaufen wollte, und versucht, mit meinem Geldbeutel abzuhauen. Es mißlang, weil ich ihn noch an der Hose zu fassen bekam und ihn einige Passanten festhielten – da purzelten aus seinen Taschen acht weitere Geldbeutel, mit Kreditkarten, Travellerschecks, Dollar und Yen. Drei Monate danach bekam ich die Nachricht, daß der Junge, damals sieben oder acht Jahre alt, schon am Tag nach dem Vorfall wegen Minderjährigkeit zu seinen „mutmaßlichen Eltern“ (so sagte der Beamte) zurückgebracht worden war, in ein Lager von Nichtseßhaften am Stadtrand.

Mirko versucht wieder ein Lächeln. „Keine Angst, ich beklau' Sie nicht. Ich arbeite jetzt. Das heißt, jetzt nicht, weil ich einen Unfall hatte, bin vom Traktor gefallen und unter ein Rad gekommen. Aber sonst arbeite ich.“

Wahrscheinlich bemerkt er eine gewisse Skepsis in meinem Blick. „Nein, nein“, sagt er, „ich arbeite wirklich. Ich bin jetzt vierzehn, da geht nichts mehr mit Strafunmündigkeit. Und ich habe sogar eine Schule besucht. Nicht mit großem Erfolg. Aber immerhin. Lesen und Schreiben kann ich, Rechnen noch besser.“

Als ich ihn damals erwischt hatte, deutete nichts auf eine Möglichkeit der Resozialisierung hin. „Jungen wie der sterben als Gangster“, hatte mir ein Polizist gesagt, und der Staatsanwalt hatte in seine Einstellungsverfügung geschrieben, daß der Junge „ein Mitglied jenes Heeres Zehntausender wahrscheinlich nicht einmal bei seinen richtigen Eltern lebender, systematisch zum Verbrechen abgerichteter Kinder“ sei, „gegen die wir leider völlig machtlos sind“.

Mirko bemerkt wohl, daß mir all das wieder in den Sinn kommt, als wir uns auf eine Bank im Korridor setzen. Er hilft mir, meine Infusionskarre zu plazieren. „Waren schlimme Jahre“, sagt er, „und wenn ich Armando nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, ob ich noch leben würde.“ Zwischen diesem Armando, einem Sozialhelfer, der damals im Camp arbeitete, und Mirko ist so etwas wie das Verhältnis eines Kindes zu seinem viel älteren Bruder entstanden.

Mirko weiß nicht einmal, wer seine Eltern sind: Diejenigen, zu denen ihn die Polizisten damals zurückgebracht haben, waren es jedenfalls nicht, obwohl er dies gegenüber den Behörden behauptet und die Leute dies auch bestätigt hatten. „An die war ich verkauft worden, nachdem sie mich geraubt hatten, und wehe, wenn ich nicht zu ihnen zurückgegangen wäre.“

Ein Arzt kommt vorbei, legt den Kopf schief: „Mirko“, sagt er mit deutlich gespielter Strenge, „keine Faxen hier! Passen Sie auf“, lacht er dann mir zu, „und zählen Sie hernach jeden Finger nach – der Kerl kann klauen wie eine Elster.“ Mirko hebt die Schultern: „Sehen Sie, wer einmal einen Makel hat, kriegt ihn nicht wieder los. Dabei hätten die gar nichts von meiner Vergangenheit gewußt, wenn ich's ihnen nicht zum Zeitvertreib vorgemacht hätte.“ Der Arzt nickt: „Der hat eine Fingerfertigkeit, unglaublich. Ich laß ihn nicht mehr näher als fünf Meter an mich heran – anschließend bringt er mir immer das Zeug, das er mir unbemerkt rausgenommen hat.“ Er kommt nun doch näher, tätschelt Mirko am Kopf. „Nein, er ist wirklich ein toller Kerl.“

Mirko schüttelt den Kopf, als der Arzt weg ist. „Wenn die mich mal wieder beim Klauen erwischen würden, wäre ich die größte Drecksau, gerade für Leute wie den“, sagt er ohne Bitterkeit, ganz sachlich. „Ich bleibe immer der Junge, dem man nicht trauen darf, der Ausländer, der Bursche aus dem Zigeunercamp. Ich hab' damit leben gelernt.“

Ganz undeutlich kann er sich noch zurückerinnern an eine Welt, die ganz anders war, an flache Hügel, schöne Flüsse, an Leute, die anders sprachen als hier in Italien. Aus den Brocken, die ihm von damals noch geblieben sind, hat Armando herausgefunden, daß es wohl in Kroatien gewesen sein muß, wo er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hat. „Manchmal träume ich davon, aber dann wache ich sofort auf, mehr als ein paar Fetzen sind das nicht, aber ich fühle mich wohl, wenn ich davon träume.“ Doch an diesen schönen Teil des Traums, in dem er auch eine junge Frau sieht, vielleicht seine Mutter, schließt sich immer ein anderer an – „da ist es plötzlich kalt und finster, und eine Hand klammert meine Hände fest, hält mir den Mund zu“. Im Laufe der Zeit hat Mirko gelernt, den Traum noch im Schlafen abzubrechen – kaum beginnen die schönen Bilder, versucht er aufzuwachen, damit der böse Teil nicht folgt.

Ganz sachte hatte Sozialhelfer Armando dann versucht, Mirko aus der Welt, in die man ihn gestoßen hatte, wieder herauszulösen. „Das war wahnsinnig schwierig. In der Schule, in die sie mich brachten, kam ich zuerst nicht richtig mit, aber die Kameraden hatten Respekt, weil ich mit den Fingern so schnell war. Hütchenspiel, Kartentricks, mal auch der Lehrerin unbemerkt was aus der Tasche klauen.“ Dazu haben ihn alle angefeuert – bis ihn dann einer angeschwärzt hat und nun keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte. Nur ein Mädchen war da, „Giovanna, die hat sich zwar nicht mit den anderen angelegt, aber sie hat mir immer mit den Augen Zeichen gemacht, ich soll's nicht ernst nehmen. Sie können gar nicht nachfühlen, wie wichtig dieses Zwinkern für mich war.“

Dreimal mußte er die Schule wechseln, weil sich die Eltern von Mitschülern gegen Jungen aus dem Nomadencamp gewehrt hatten. Armando nahm ihn zeitweilig bei sich auf. Pflegeeltern? Auch dieser Versuch scheiterte. So hat Armando Mirko wieder herausgenommen, einige Zeit lebte der Junge dann in einem Heim. „Das war das schlimmste – da waren lauter wirkliche Gangster beisammen. Burschen, die nur was vom Hauen verstanden.“ Er riß aus, traute sich aber nicht zu Armando – bis der ihn wieder fand. „Der kannte meine Neigung für dieses Mädchen und hat sich mit seinem Auto einfach zwei Tage in die Nähe der Schule gestellt, und da kam ich hin, weil ich Giovanna wiedersehen wollte.“

Besonders schlimm waren jedoch die Versuche seiner Schein- familie, ihn wieder einzufangen: „Die hatten mich ja systematisch ausgebildet und behaupteten, daß ich ihnen deshalb viel Geld schulde.“ Immer wieder erwischten sie ihn, schlugen ihn, er mußte für sie „arbeiten“, bis Armando ihn wieder fand.

Wieder ein Heim, diesmal ein ruhigeres, bei Klosterschwestern außerhalb Roms. „Eine davon hatte mich wohl wirklich sehr gerne, die wollte meine ganze Geschichte wissen.“ Aber Mirko wollte seine Geschichte ja selbst vergessen, so trotzte er auch dieser Frau, erzählte ihr, „was die halt gerne hörte“, guckte sie lieb an – und suchte wieder nach Gelegenheiten, abzuhauen. Neben Armando scheint die Schwester der einzige Mensch zu sein, der Mirko wirklich Respekt abgenötigt hat.

Nicht mal die Männer, die ihn „ausgebildet“ hatten, und deren Gaunerfähigkeiten er lange bewundert hatte, bringen ihn heute noch zu achtungsvollen Worten. „Das ist alles eine Sache der Übung, kann bald jeder lernen.“ Zuerst mußte er auf Bürgersteigen Leute anrempeln, so daß sie Mirkos Helfern in die Arme fielen und die Taschen geleert bekamen. Später mußte er „toter Junge“ spielen: Er simulierte einen Anfall, wälzte sich auf der Straße, „möglichst vor Frauengruppen“, und während sich dann alle zu ihm herunterbeugten, griffen seine Freunde von hinten in die Handtaschen der Mitleidigen. Dann wurde er in den Bus 64 „abgestellt“: Der fährt vom Bahnhof zum Vatikan, Fahrzeit etwa 25 Minuten, „und gerammelt voll“. Für Taschendiebe ein Paradies.

Nachdem er allerdings zweimal nicht schnell genug aus dem Bus herauskam, als jemand „Achtung, Diebe“ gerufen hatte, spezialisierte er sich auf „besondere Kunden“: Im Bus praktizieren viele Männer ein besonderes Spielchen, das „mano morta“ heißt, „tote Hand“: Sie passen das übliche Ruckeln des Busses ab und greifen da den vor ihnen stehenden Frauen zwischen die Beine, so als sei das versehentlich. Mirko erkannte solche Patrone schon beim Einsteigen, weil die sich immer so dicht zu Frauen durchdrängten: „Wenn der Kerle nur auf die Möse der Frau aus ist, merkt der gar nicht, wenn man ihm die Börse zieht.“ So blieb er wochenlang einsame Spitze beim abendlichen Nachzählen der Einkünfte: „Denn die Männer, die das machen, sind meist keine armen Schweine, sondern feine Pinkel, die allerhand Geld in der Tasche haben.“

Der Arzt kommt wieder vorbei. „Mirko, es ist Zeit zu gehen, ich muß den Verband wechseln“, sagt er. Mirko steht auf. Und jetzt, wie geht's weiter? „Nächste Woche ist der Bruch verheilt, dann bin ich wieder auf den Feldern. Wir haben gerade die Kohlrabi geernet, dann die Krautköpfe, bald kommen die Erdbeeren, ich bin immer der Schnellste.“

Er wendet sich zum Gehen, dann dreht er sich noch einmal um und sagt, so daß nur ich es hören kann: „Und wenn ich ein bißchen Geld habe, haue ich ab.“ Wohin? „Nach Somalia.“ Was ist dort zu holen? „Nichts. Aber dort arbeitet Armando jetzt.“ Armando, der Sozialarbeiter? Wieso hat der ihn im Stich gelassen?

Urplötzlich stehen Tränen in Mirkos Gesicht. „Sie haben ihn gefeuert, weil er ein paar Jungen wie mich versteckt hatte, das hieß dann Begünstigung. Da ist er ausgewandert. Ich will unbedingt zu ihm.“

Dann legt er mir die Hand auf den Arm. „Wahrscheinlich werde ich es aber doch nicht schaffen, ich muß meinen Weg wohl alleine gehen. Denkst du, ich kann das?“

Ich versuche ein Lächeln, da korrigiert er sich, „Verzeihung, ich wollte Sie nicht duzen.“

Macht nichts, im Gegenteil, es freut mich. Aber Antwort weiß ich auch keine. Nur: Wer sollte es schaffen, wenn nicht er?