Eine unterlassene Hilfeleistung

„Besser die Gerichte belasten als die Sterbenden.“ Amerikanische Philosophen unterschiedlichster Lager sprechen sich in einer Petition für die Tötung auf Verlangen aus – der Oberste Gerichtshof entscheidet im Sommer  ■ Von Mariam Niroumand

George A. Kingsley befand sich im fortgeschrittenen Stadium einer Aidserkrankung, als er vor einem Washingtoner Appellationsgericht gemeinsam mit einigen anderen Sterbenden gegen das Verbot der Tötung auf Verlangen protestierte. Das Gericht teilte die Einschätzung der Kläger, es laufe dem Geist der Verfassung zuwider, dem Staat so ohne weiteres das Recht zuzugestehen, Ärzte daran zu hindern, sinnloses Leiden zu beenden. Eine weitere Gruppe reichte eine ähnliche Klage bei einem New Yorker Appellationsgericht ein. Einer der Kläger, James Poe, litt an einem chronischen Emphysem, einer Überblähung der Lunge, die ihn in konstanter Panik vor dem Ersticken hält, eine Panik, die nicht verschwindet, obwohl er an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen ist.

Die beiden Fälle wurden an den Obersten Gerichtshof überwiesen, wo sie im Sommer entschieden werden sollen. Die Mehrzahl der beteiligten Patienten ist inzwischen gestorben. Über 60 Petitionen sind beim Supreme Court eingegangen, die jeweils für bestimmte Interessengruppen Position beziehen: Ärzteorganisationen, die gegen die Entscheidung der Appellationsgerichte votieren, oder Gesundheitsorganisationen schwuler Männer, die sich dafür aussprechen. Obwohl inzwischen die meisten den Eindruck haben, daß die obersten Richter die Entscheidung kippen werden, haben sich jetzt noch einmal sechs Philosophen – darunter der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin und der Kommunitarist John Rawls – zusammengefunden und dem Gericht ihrerseits eine Petition vorgelegt, die eben nicht aus einer konkreten Interessenlage spricht, sondern nach den ethischen Implikationen der Entscheidung fragt.

Sie setzen sich dabei zunächst mit dem Hauptargument der Gegner auseinander, dem sogenannten slippery slope, also der Vorstellung, daß das einmal aufgehobene Tötungsverbot der „Dammbruch“ sei, der schließlich dazu führe, daß man auch einem 16jährigen, der aus Liebeskummer zu sterben wünsche, die tödlichen Medikamente nicht mehr würde verweigern können. Und denjenigen, die zu schwach seien, die Medikamente selbst zu nehmen, wie könnte man ihnen eine Tötung auf Verlangen verweigern?

Das Reden vom Dammbruch hat sich gerade im Zusammenhang mit der Bioethik inzwischen als zugkräftigste Metapher erwiesen. Es vergrößert den Einzelfall zur unbeherrschbaren Bedrohung, stellt ein Kontinuum her zwischen Selbstmord und Mord und setzt Ärzte, Angehörige und schließlich die gesamte Gesellschaft unter den Generalverdacht, alle warteten nur darauf, sich der Leidenden zu entledigen. „Dammbruch“ ist von der analytischen Genauigkeit eines Wortes wie „Asylantenschwemme“, arbeitet mit ähnlichem metaphorischem Gehalt und ist ganz bewußt in der Absicht hervorgebracht, eine Diskussion abzubrechen.

Die Petition der Philosophen antwortet darauf, erstens habe jeder, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei, das Recht, fundamentale Entscheidungen zu treffen, die aus grundlegenden religiösen oder philosophischen Überzeugungen in bezug auf den Wert seines eigenen Lebens resultieren. Zweitens räumen sie ein, es komme durchaus vor, daß Menschen solche Entscheidungen impulsiv oder in einer depressiven Lage treffen, so daß ihre Handlungsweise also nicht ihren grundsätzlichen Überzeugungen entspricht. In diesem Fall hat der Staat Grund, das oben beschriebene Recht außer Kraft zu setzen und jemanden vor einer irrtümlichen, aber nicht revidierbaren Verzweiflungstat zu schützen. Leute, die später dankbar sein könnten, von einem Selbstmord abgehalten worden zu sein, soll der Staat abhalten dürfen.

Zweifellos wird es zwischen dem eindeutigen Fall des 16jährigen und dem ebenso eindeutigen Fall eines Sterbenden, der noch Wochen bei klarem Bewußtsein in unerträglichen Schmerzen zubringen soll, etliche Schattierungen geben, die nicht so eindeutig sind und die erneute Prozesse nach sich ziehen. „Aber es ist doch wohl besser“, so schreibt Dworkin, „die Gerichte nähmen diese Last auf sich, als daß sie von ihr befreit würden um den Preis dieses unerträglichen Leids.“

Nun enthält aber das Dammbruch-Argument einige praktische Implikationen. So wird beispielsweise befürchtet, es könne dazu führen, daß mittellose Patienten in überfüllten Krankenhäusern unter Druck gesetzt würden, sich für einen Selbstmord zu entscheiden. Das Gegenteil aber, so argumentieren die Philosophen, ist der Fall: „Die Lage sieht eher so aus, daß gerade solche Patienten mehr als früher von Erleichterungen profitieren können, die jetzt nur den Besserverdienenden zukommen, die das Glück haben, Beziehungen zu Ärzten zu haben, die bereit sind, das Risiko einzugehen, ihnen zu helfen. Das Gefühl, in dem viele Angehörige der Mittelschichten leben, daß nämlich ihr Arzt im Zweifelsfall wissen wird, was zu tun ist, erklärt auch, warum es nicht mehr politischen Druck für ein offeneres und gerechteres System gibt, in dem das Gesetz jedem zugesteht, was einflußreiche Leute schon jetzt für sich selbst erwarten können.“

So zeigt beispielsweise eine Washingtoner Untersuchung, in der den Befragten Anonymität zugesichert worden war, daß 26 Prozent der Ärzte schon um Sterbehilfe gebeten worden waren und daß sie dieser Bitte bei 24 Prozent der Patienten mit Sterbewunsch auch nachgekommen waren. Die Zahlen entsprechen in etwa denen in Holland, wo die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Umständen legal ist – ein schlagendes Argument gegen den „Dammbruch“.

Niemand, auch nicht die schärfsten Gegner der Sterbehilfe, bestreitet, daß es Schmerzpatienten gibt, denen nicht adäquat geholfen wird. Selbst die oberste Gesundheitsbehörde der USA, die den Supreme Court bedrängt, die beiden Appellationsurteile zurückzunehmen, gibt zu, daß 25 Prozent aller Todkranken in Schmerzen sterben. Es kommt oft vor, daß solche Patienten durch Barbiturate oder Benzodiazepine so sediert werden, daß sie sich in einem pharmakologischen Koma befinden, in dem sie weder Wasser noch Nahrung erhalten und deshalb früher sterben. Diese Sedation gilt allgemein als legal, obwohl sie den Tod beschleunigt. Aber diese Sedation wird nicht annähernd so strengen Regeln ausgesetzt wie diejenigen, die ein Staat aufstellen müßte, der Tötung auf Verlangen zuläßt – denn dazu würde unter anderem gehören, daß Krankenhäuser, die diesem Verlangen nachkommen wollen, nachweisen müssen, daß sie zuvor die besten Schmerztherapien ausprobiert haben.

Schließlich befaßt sich der Text mit den zum Teil absurden Unterscheidungen zwischen unterlassenen Hilfeleistungen und aktiver Sterbehilfe, so als zielten nicht gleichermaßen alle auf den Tod. Es ist schon auffällig, wie plötzlich im Zusammenhang mit dem Klonen, aber auch mit der Sterbehilfe, eine neue Ergebenheit gegenüber der Natur an den Tag gelegt wird, die man in den Abtreibungsdebatten höchstens von christlichen Fundamentalisten kannte: wo beginnt Leben, und wo hört es auf ...

Im Gegensatz zu vielen der Petitionen, die von Interessengruppen kamen, las man bei der von Dworkin und anderen mit, daß es nicht einfach darum geht, sich ein gutes, dem modernen Individualismus zu Diensten eilendes Gesetz zu formulieren. Der ganze Prozeß soll etwas mit Würde zu tun haben: Würde des Gerichts, Würde der diskutierenden Öffentlichkeit – beider Seiten – und Würde von Schmerzpatienten.

Der Originaltext wird in der neuen Ausgabe der „New York Review of Books“ am 27.März (Vol. XLIV, No.5) veröffentlicht