So ein wildes, trauriges Leben

Aus Wilhelm Reich – Orgasmusprophet, Analytiker und Entdecker okkulter Weltenergien – läßt sich einfach keine Lichtgestalt machen. Harry Mulisch nähert sich ihm auf Augenhöhe. Am 24. März wäre Reich 100 Jahre alt  ■ Von Michael Schröter

Harry Mulisch ist längst nicht mehr nur, wie er früher fand, „weltberühmt in Amsterdam“. Ein Buch von ihm über Wilhelm Reich erregt auch des Autors wegen Aufmerksamkeit. Daß es jetzt auf deutsch herauskommt, verdankt sich dem 100. Geburtstag von Reich am 24. März. Die Originalausgabe erschien bereits 1973. Was sagt uns ein Dichter-Denker wie Mulisch über den lange vergessenen, vor 30 Jahren zum Nachruhm erweckten Psychoanalytiker, Kommunisten, Orgasmuspropheten und Entdecker okkulter Weltenergien, dessen mythenträchtiges Leben im amerikanischen Gefängnis zu Ende ging?

Vor allem erzählt er seine Biographie. Reich begann 1920, noch als Medizinstudent, Psychoanalyse zu praktizieren und leitete bald die technische Weiterbildung der jungen Analytiker in Wien. Aus dieser Arbeit erwuchs sein Buch über „Charakteranalyse“, heute unbestritten ein Klassiker. Das kann man von keinem anderen seiner Werke sagen, auch nicht von der „Funktion des Orgasmus“. Nach dessen Publikation 1927 ging er zu den Sozialdemokraten, die ihn aus der Partei warfen, als er eine linke Oppositionsgruppe schuf. Neben der Einzelpraxis gründete er Sexualberatungsstellen.

Ende 1930 zog Reich nach Berlin. Er schloß sich der KPD an, setzte seine sexualreformerische Tätigkeit fort und schrieb Bücher wie den „Einbruch der Sexualmoral“ oder die „Massenpsychologie des Faschismus“. Sein Verhältnis zu den Verbänden der Kommunisten und der Psychoanalytiker war schon vor der Machtergreifung Hitlers gespannt. Im Sommer 1933 wurde er aus beiden ausgeschlossen.

1934 ließ sich Reich in Oslo nieder. Dort entwickelte er eine körperbezogene „Vegetotherapie“ und erforschte mit bioelektrischen Messungen das physische Substrat von Lust und Angst, wie er es sah. Er „entdeckte“ mikroskopisch kleine Bausteine der Lebensenergie, die er „Bione“ nannte. Angesichts einer feindseligen Pressekampagne emigrierte er 1939 in die USA, wo er eine kosmische, strahlende „Orgon“-Energie konzipierte, die er auch (mittels kabinenartiger „Akkumulatoren“) therapeutisch einsetzte, zum Beispiel gegen Krebs. Als ihre Gegenkraft fand er ein „deadly orgon“ (DOR); er baute Orgonkanonen, um Regen zu machen.

1954 eröffnete die amerikanische Gesundheitsbehörde einen Kurpfuscherprozeß gegen ihn, an dessen Ende die „Orgonakkumulatoren“ verboten wurden. Reich ignorierte den Gerichtsentscheid und wurde wegen contempt of court zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Am 3. November 1957 verstarb er.

Offenbar hatte dieses Leben etwas Verrücktes. Ich denke, es wurde angetrieben von einem ungeheuren Rettungswunsch, der immer mehr ausgriff. Als seine Patienten nicht ohne weiteres gesund wurden, versuchte Reich die analytische Technik zu optimieren. Seine Orgasmus-Theorie verhieß Erlösung von der Neurose, wenn nur die Libido ungehindert abfloß. Über die Einzelpatienten hinaus wollte er durch Beratungs- und Aufklärungsarbeit zur Befreiung der Sexualität und so zur Herstellung seelischer Gesundheit im Gros der Gesellschaft beitragen.

Er beschrieb Kapitalismus und Faschismus als Nährboden der patriarchalischen Kleinfamilie, die das Erzübel der Sexualunterdrückung züchtete. Die proletarische Revolution werde die Sexualmoral hinwegfegen und das Paradies des Matriarchats wiederbringen. Zuletzt führte Reich den Kampf für das Leben gegen den Tod auf globaler und kosmischer Ebene.

Vielen, die heute etwas von Reich halten, ist sein Abgleiten in wissenschaftlich gefaßte Privatmythologien peinlich. Sie behelfen sich mit der Auskunft, daß es in seinem Leben um 1934 einen Bruch gab, wo der Wahnsinn begann. Aber so sauber läßt sich das Vorher vom Nachher, wie ich finde, nicht scheiden. Auch die früheren Theorien von Reich sind manichäisch angelegt – im Sinne von: böse Gesellschaft gegen gute Menschennatur – und werden in einem je nach Gusto des Lesers mitreißenden oder monomanischen Ton vorgetragen. Umgekehrt knüpft eine reichianische Tradition wie die „Bioenergetik“, die seriös aussieht, an die spätere „Vegetotherapie“ an. Schamlos egozentrisch war er stets. In all die Gebiete, die er sich vornahm, wühlte er sich fieberhaft hinein, meinte nach kurzer Zeit, sie revolutioniert zu haben – und sprang zum nächsten.

Wenn erfahrene Fachleute ihm widersprachen, ob Freud seiner Auffassung des Orgasmus, norwegische Biologen seiner Biontheorie oder Einstein seiner Orgonlehre, gab er ihnen die Schuld. Zusammenarbeiten konnte er nur mit gläubigen Schülern, oft ehemalige Patienten von ihm. Mit größeren Gruppen, denen er angehörte, hat er sich regelmäßig verfeindet. Daß sie mächtiger waren als er, wollte er einfach nicht wahrhaben. Er provozierte sie und fühlte sich, wenn sie zurückschlugen, verfolgt.

Auch Mulisch rechnet mit einer Zäsur zwischen „Sinn und Wahnsinn“ bei Reich um 1934. Aber im Zuge seiner Darstellung milderte er sie ab. Reichs Leben steht für ihn unter dem Zeichen einer traumatischen Episode: als der 13jährige seinem Vater ein Liebesverhältnis der Mutter verriet. Die Mutter beging Selbstmord, der Vater vier Jahre danach auch. Die ganzen Forschungen Reichs dienten, so Mulisch, der Wiederholung dieses Ereignisses.

Ich habe die Durchführung des Gedankens nicht völlig verstanden, aber daß Reich auf wechselnden Ebenen immer wieder die Lust seiner Mutter beobachtete (und vermeldete), bis das ganze Weltall einen Orgasmus hatte wie damals sie, ist eine attraktive Theoriedeutung, zumal von einem Autor, der sich als Antipsychologe gibt. Psychoanalytiker, die solche Zusammenhänge verfolgen, haben Reich ähnlich interpretiert, aber Mulisch scheint der erste gewesen zu sein. Dabei betont er sehr, daß Theorien neurotisch bedingt und doch wahr sein könnten. Er plädiert für ein Denken in unaufgelösten Widersprüchen und erkennt sogar den Wahn, ohne ihn zu leugnen, als konstruktive Leistung an.

Solche Gelassenheit ist unseren hiesigen Genossen fremd. Man merkt den Unterschied, wenn man nach Mulisch den gleichzeitig erschienenen Sammelband von Fallend und Nitzschke über den „Fall Reich“ liest. Ich beschränke mich hier auf die gewichtigsten Beiträge, die von den Herausgebern selbst stammen. Der Casus, dessen Material sie in findiger, gründlicher Quellenarbeit erschlossen haben, bezieht sich auf die Jahre 1933/34, mit Vor- und Nachspiel.

Reich hatte um 1930 eine Position gewonnen, die seine Version der Psychoanalyse mit einer Art Marxismus verband und die das Mißfallen Freuds erregte. Anfang 1933 war dessen Werk – jüdisch, aufklärerisch, triebfreundlich – akut bedroht. Reich, der als bekannter kommunistischer Agitator in Lebensgefahr war, floh nach Wien.

Dort fürchtete man ein Überschwappen der braunen Flut, aber der Flüchtling hielt seine Brandreden weiter. Freud befand daraufhin: „Wenn die Psychoanalyse verboten wird, so soll sie als Psychoanalyse verboten werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das Reich vertritt.“ Er veranlaßte den Ausschluß Reichs aus der deutschen psychoanalytischen Gesellschaft (und damit aus dem internationalen Verein), von dem der Betroffene erst 1934, ein Jahr später, erfuhr.

Es hätte Möglichkeiten gegeben, ihn wieder aufzunehmen, aber die Vereinsleitung verbaute ihm diesen Schritt. Reich freilich machte es ihr auch leicht, da er in seinem grandiosen Selbstbewußtsein einen pragmatischen Kampf um die Rehabilitation verachtete.

Keine Frage, Reich wurde das Opfer einer häßlichen Intrige. Und der Abscheu verstärkt sich, wenn man den furchtsamen Opportunismus sieht, mit dem deutsche Analytiker 1933 ihre Selbstgleichschaltung betrieben.

Aber den großen moralischen Hammer sollte man doch nicht schwingen. Wer sah damals voraus, wohin der Nationalsozialismus führen würde? Auch Freud machte aus Sorge um den Fortbestand seines Werkes taktische Konzessionen (zum Beispiel indem er sein letztes Buch jahrelang zurückhielt).

Nur wer die Bereitschaft zur Selbstzerstörung für ein moralisches Plus hält, kann das verächtlich finden. Reich hingegen zeigte jene Kompromißlosigkeit, Realitätsflucht und Egozentrik, die ihn schon vorher zum Prediger des Bürgerkrieges hatte werden lassen und die am Ende sein Untergang war.

Nein, es gibt in dieser Geschichte keine Helden und Schurken. Zumal Wilhelm Reich taugt nicht als Lichtgestalt. Fallend und Nitzschke aber inszenieren seinen „Fall“ als Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen der guten „politischen“ und der schlechten nur- therapeutischen Psychoanalyse. Reich dient ihnen dabei als bloßes Exempel.

Ganz anders Mulisch, der sich für den Mann wirklich interessiert. Sein 25 Jahre altes Buch ist nicht auf der Höhe der Forschung. Ich vermute, es wurde ein wenig mit links geschrieben, einige faktische Angaben sind falsch und manche Episoden undurchsichtig. Wer sich in dieses wilde, traurige Leben vertiefen will, mag lieber zu der großen Reich-Biographie von Myron Sharaf greifen, die 1994 auf deutsch erschienen ist (bei Simon + Leutner, Berlin). Aber Mulisch holt Reich aus dem manichäischen Geisterkampf unter die Menschen zurück, und das ist keine geringe Tat.

Bester Ausdruck dieser Humanität, die vieles nebeneinander erträgt, ist der witzige Aufbau seines Buches. Vor der Biographie steht ein Teil, in dem Mulisch selbst von Vater und Mutter und von frühen Sexualerlebnissen erzählt. Die Auswahl des zu Berichtenden läßt er von einer höheren Macht treffen, nämlich von Vorfällen des Tages, an dem er erstmals ein Werk von Reich kaufte.

So gibt der Biograph seine auktoriale Allmacht preis, stellt sich auf eine Stufe mit seinem Objekt, und man fängt an, über die Anziehungskraft zwischen beiden nachzudenken. Das Prinzip einer Offenlegung der Subjektivität, das Mulisch auch ausdrücklich vertritt, könnte eine fruchtbarere Errungenschaft der letzten Jahrzehnte sein als manche andere, die lauter daherkommt.

Harry Mulisch: „Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich“. Hanser Verlag, 196 Seiten, geb., 38 DM.

„Der ,Fall‘ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik“. Herausgegeben von Karl Fallend und Bernd Nitzschke. Suhrkamp Verlag, 374 Seiten, 27,80 DM