In einem Jahr mit 365 Monden

„Erklär du mir deins, dann erklär' ich dir meins“ – Wolfgang Beckers „Das Leben ist eine Baustelle“ ist ein künstlich verrätselter, verdüsterter und doch irgendwie sympathischer Berlin-Film in der „Alexanderplatz“-Tradition  ■ Von Mariam Niroumand

Am Funkturm gab es früher kleine Plastikfernseher mit Berlin- Motiven zu kaufen. Reichstag, Siegessäule und eine Zähne bleckende Kongreßhalle unter zukunftslüstern blauem Himmel erschienen auf Knopfdruck. Es liegt auf der Hand, daß diese Art von Motivwahl heute als Postkartenklischees verschrien ist, dabei könnte man für die Gegenserie, die man vielleicht „Schattenseiten“ nennen könnte, längst auch kleine Plastikfernseher reichen. Der Berliner muß sich inzwischen darauf einrichten, daß es im Prinzip zwei Versionen der Hauptstadt im deutschen Film gibt: entweder filmische Urenkel von „Berlin Alexanderplatz“ – überforderter Protagonist stolpert durch die Reizfluten – oder angestrengter Frohsinn – Jugendradiomoderatorin im Schlüpfer, der versehentlich die Tomaten vor den Nebenmieter rollen.

Zu „Berlin Alexanderplatz“ gehört, daß der Held nicht so recht in die Stadt hineinfindet, daß die Dinge ihm widerfahren und daß er ungefragt geküßt und geschlagen wird. Daß sein Stolpern sich nicht für den Slapstick eignet und auch nicht für den gelassenen Dandyismus, liegt daran, daß es melancholisches, todgeweihtes Gehen ist – nicht Buster Keaton, eher Jesus. Sein Berlin darf auf keinen Fall aussehen wie, sagen wir, das erleuchtete Spreewaldbad oder die hippe Bergmannstraße – jedenfalls nicht bei Tag! Magisch gleicht es sich immer wieder den Aufnahmen aus Rosselinis „Deutschland im Jahre Null“ an, in denen der kleine Ernst durch die Trümmer klettert.

Wolfgang Becker („Kinderspiele“) hat als Schauplätze Industriefriedhöfe, den Görlitzer Bahnhof, verwaistes Niemandsland zwischen Kreuzberg und Neukölln, „Fabriketagen mit ungeklärten Besitzverhältnissen“, diverse Ecken des Prenzlauer Bergs und selbstverständlich auch einen Fleischhof gewählt. „Es wird immer schwieriger“, so berichtet er im Presseheft, „solche Motive aufzutun, denn wegen der neuen Sicherheits- und Hygienebestimmungen ist es fast unmöglich geworden, in einem Fleischhof zu filmen. Alles ist aseptisch. Schweinehälften hängen nur selten noch so dekorativ von den Transportwagen, wie im Film zu sehen.“ So düstert man sich eine Stadt zurecht. Wolfgang Becker ist aus Hemer in Westfalen.

„Das Leben ist eine Baustelle“ ist die zweite Produktion von X-Filme, der Jungfilmer-Firma von Tom Tykwer (der hier das Drehbuch geschrieben hat), Dani Levy und eben Wolfgang Becker. Ein Hauch von Kaurismäki umweht den Winterfilm. Jürgen Vogel ist der augenumränderte Jan Nebel, der sich, wie einst Charlie Chaplin, plötzlich vor eine Demo gespannt sieht, von der Polizei verfolgt und von einer geheimnisvollen Süßen angeklimpert wird, die nicht zur Stelle ist, als man ihn ins Gefängnis wirft und ihm eine eindeutig exorbitante Geldstrafe abverlangt. Die zarte Liebe muß sich gegen geradezu lindenstraßenhafte Unbilden zur Wehr setzen: Vielleicht eine HIV-Infektion, ganz sicher keine Arbeit, die eines Mannes würdig wäre (außer daß er den Big Bird vor einem Supermarkt macht), und schließlich findet Jan sogar noch seinen Vater mit dem Kopf in den Ravioli. Sein Fleischerkumpel Buddy geht samstags zum Buddy-Holly-Look- alike-Contest. Der Bestattungsunternehmer bietet Naturholz. Die wirklich sympathischen Leute (im sogenannten „Deutschen Film“ keine Selbstverständlichkeit) finden sich irgendwann zu einer Family of Man zusammen. Jan kann nicht singen, dafür aber auf Gläsern spielen. Außerdem hat Vera (Christiane Paul) ein Geheimnis, eins mit Dreitagebart. Der Plot verdickt sich irgendwann so, daß meine Lieblingsstelle in diesem mitunter durchaus anrührenden Film ist, wenn sie zu ihm sagt: „Okay, erklär du mir deins, dann erklär' ich dir meins!“

„Das Leben ist eine Baustelle“. Regie: Wolfgang Becker, Buch: Tom Tykwer und Wolfgang Becker, Kamera: Martin Kukula. Mit Christiane Paul, Meret Becker, Jürgen Vogel. Deutschland, 1997