Schönheit der Mathematik

■ An diesem Wochenende macht der dreijährige Ligeti-Zyklus erstmals in Deutschland Station. Ein Ortstermin beim Meister der neueren Tonsetzer

Der Herr des Chaos bittet zu sich. Bücher, Kataloge und Partituren stapeln sich auf dem Tisch, den Stühlen und dem Zweisitzersofa, bilden regelrechte Gebirge. Wir sind bei György Ligeti zu Hause, dem 1923 in Rumänien geborenen Komponisten. Draußen liegt Hamburgs Nobelstadtteil Winterhude, drinnen gewährt ein kleiner, alter Mann einer Handvoll JournalistInnen eine seltene Audienz.

Nie mehr wurde ein derartiger Rummel um einen noch lebenden Komponisten gemacht wie um György Ligeti. „Nie mehr seit Strawinski“, wie der in Hamburg und Wien lebende Tonsetzer nicht unkokett anmerkt. Bis 1999 will das Philharmonia Orchestra London sein Gesamtwerk aufführen und zugleich auf 13 CDs einspielen. Zwischen Tokio und San Francisco beteiligen sich über drei Jahre Konzerthäuser in insgesamt 14 Städten – darunter Frankfurt und Bremen als Aufführungsorte in Deutschland.

Der Mann macht Rätsel. Einerseits gilt er als sehr öffentlichkeitsscheu, andererseits sprudelt er los, wenn er eingeladen wird, um über Musik und vorzugsweise seine eigene zu sprechen. Er entschuldigt sich für sein schlechtes Deutsch – das selbstredend eloquent ist – und dafür, daß seit Monaten nicht mehr aufgeräumt wurde. Die Stifte kritzeln mit, die Kasettenrecorder summen, und als eines der Geräte piept, fragt Ligeti, „soll ich unterbrechen“ – damit die Welt auch kein Wort von ihm verpaßt.

Ligeti, György, in Siebenbürgen geboren, in Ungarn groß geworden, dortselbst bei Sándor Veress und Ferenc Farkas ausgebildet und 1956 geflohen, 1957 in Köln gestrandet. Einmal, zu Beginn der 60er Jahre, hat er einen Skandal riskiert. Vor einem Akademiepublikum sollte er über die Zukunft der Musik reden. Doch er schwieg. Acht Minuten lang. Und schrieb „Laßt euch nicht provozieren“ auf die Tafel. Darauf angesprochen, lächelt Ligeti verschmitzt und mischt dann Stolz in die Erinnerung. „Ich bin ein Handwerker“, sagt er, der kurz nach seiner Ankunft in Deutschland auf Karlheinz Stockhausen traf und davon beeinflußt selbst elektronische Musik komponierte. „Damals dachte ich, der Komponist kann alles machen, doch später habe ich gemerkt, daß das ein Irrtum ist.“ Er wandte sich bald wieder den „traditionellen Instrumenten“ zu, aber eines hat er, wie er heute sagt, in den Kölner Studio-Zeiten gelernt: „das Übereinanderlegen vieler Schichten“. Dem abstrakten Serialismus jener Jahre setzte er seine Neue Musik entgegen. Kompositionen wie die „Apparitions“ (1958/59) oder die als Durchbruch geltenden „Atmosphères“ (1961) waren einfach unerhört. Später nahm er seine radikale Abkehr von bekannter Melodik, Rhythmik und Intervallik wieder zurück und fand eine Tonsprache, die dramatische Momente mit kluger Konstruktion vereinte.

„Die Schönheit der Mathematik“ macht der Komponist für die Musik urbar, und der sind auch Vincent Meyer, der Präsident des Philharmonia Orchestra London und Initiator des Ligeti-Projekts, sowie der Dirigent Esa-Pekka Salonen erlegen. Eines der „Genies unseres Jahrhunderts“ werde jetzt gewürdigt, schwärmte Salonen im Dezember vergangenen Jahres in London bei der Eröffnung des Zyklus, der an diesem Wochenende erstmals in Deutschland Station macht. In sieben Tourneeprogrammen werden neben Ligetis Werken auch Kompositionen nahestehender Kollegen von Bartók bis Strawinski aufgeführt. Hinzu kommt ein Festkonzert in Tokio zum 75. Geburtstag am 28. Mai 1998 sowie schon im August 1997 die Aufführung der völlig überarbeiteten Oper „Le Grand Macabre“ in der Inszenierung Peter Sellars bei den Salzburger Festspielen.

„Die erste Fassung war weder Sprechtheater mit Musik noch Oper“, sagt Ligeti über das vor 20 Jahren entstandene Original. Und es scheint, daß noch immer nicht entschieden ist, ob die Regisseure vieler „desaströser“ Inszenierungen oder der Komponist selbst für das häufige Scheitern der Oper verantwortlich sind. Immerhin, „sie ist kein Durchfall“, glaubt Ligeti, der für die Neufassung Gesprochenes in Musik gesetzt und wie ein „kosmetischer Chirurg“ zum Teil starke Kürzungen vorgenommen hat.

Dann ist die Audienz auch schon zu Ende, und Ligeti entläßt die Schar mit einem Witz: „Noch eine Frage, ich muß mit meinem Spätwerk anfangen.“ Christoph Köster

Philharmonia Orchestra London unter der Leitung Esa-Pekka Salonens und mit dem Solisten Frank Peter Zimmermann (Violine) am 23. März in der Jahrhunderthalle Höchst, Frankfurt/Main, und am 24. März in der Bremer Glocke