■ Der ehemalige Chefankläger des Jugoslawien-Tribunals, Richard Goldstone, über die Universalität der Menschenrechte, die Verfolgung und Verurteilung von Kriegsverbrechen sowie die Chancen eines ständigen Internationalen Gerichtshofes
: Auf d

Mit den Nürnberger und Tokioter Prozessen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in bezug auf die Verfolgung und Verurteilung von Kriegsverbrechern durch die internationale Gemeinschaft Neuland beschritten. Mit diesen Prozessen verband sich die Hoffnung, daß zukünftige Kriegstreiber individuell für ihre Taten verantwortlich gemacht würden und sich nicht hinter ihrer Funktion innerhalb eines Regierungsapparates verstecken könnten. Doch bis in die 90er Jahre ist es zu keiner weiteren internationalen Anklage gegen Einzelpersonen aufgrund von Kriegsverbrechen gekommen. Erst mit den Resolutionen 808 und 827 (aus 1993) hat der UN-Sicherheitsrat einen weiteren Schritt in Richtung internationales Strafrecht und internationale Strafrechtsdurchsetzung unternommen: Mit diesen Beschlüssen wurde die Einsetzung eines Tribunals über Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien beschlossen.

taz: Wer eine Weltgemeinschaft des Rechts anstrebt, muß sicherstellen, daß wenigstens eine Minimalzahl schwerer Delikte überall auf der Welt als solche anerkannt, verfolgt und bestraft werden. Die Nürnberger und Tokioter Gerichtshöfe haben erste Schritte gesetzt. Wie schätzen Sie die Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs für Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien in diesem Kontext ein?

Goldstone: Die Rolle dieses Strafgerichtshofs der UNO muß vor dem Hintergrund der Tatsache gewürdigt werden, daß es nach Nürnberg fast fünfzig Jahre lang keinerlei internationale Bemühungen zur Durchsetzung humanitärer Rechte gegeben hat. Schon 1948 ging man in der Genfer Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords davon aus, daß ein permanenter internationaler Gerichtshof für Strafsachen geschaffen würde. Die Tatsache, daß dies nicht geschah, bedeutete für viele potentielle und tatsächliche Kriegsverbrecher, daß sie nicht befürchten mußten, eines Tages in irgendeiner Form international zur Rechenschaft gezogen zu werden. Folglich gab es keinerlei internationales Abschreckungsmittel. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es zur Eindämmung von Straftaten nur ein Mittel gibt: eine effiziente Strafverfolgung. Nur so kann potentiellen Straftätern Angst vor einer Ergreifung und Bestrafung eingeflößt werden.

Überall besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Effizienz der Polizei und der Verbrechensrate. Bei der Durchsetzung von Völkerrecht ist es nicht anders. Die Gesamtzahl der seit dem Zweiten Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen ergibt eine Schreckensstatistik. Unternimmt die Völkergemeinschaft keinen ernsthaften Versuch, für solche Verbrechen eine Abschreckung zu schaffen, wird das 21. Jahrhundert noch blutiger als das jetzige.

In diesem Zusammenhang muß die Entscheidung des Sicherheitsrats zur Schaffung des Jugoslawien-Tribunals und des Internationalen Gerichts für Ruanda als ein wichtiger Fortschritt gesehen werden, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Fragen des humanitären Rechts gelenkt, und die Arbeit beider Gerichtshöfe wird von Regierungen und internationalen Organisationen ernst genommen. Damit erhöhte sich auch die Dringlichkeit zur Fertigstellung eines Vertragsentwurfs für die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs durch die Internationale Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen.

Ich gehe fest davon aus, daß der Entwurf im Verlauf des Jahres 1997 fertiggestellt wird und die Bestimmungen des Vertrags dann im Jahr 1998 im Rahmen einer internationalen Konferenz erörtert werden. In diesem Zusammenhang ist es auch von größter Bedeutung, daß bei Abschluß der Arbeit der Rechtskommission die Tätigkeit der beiden UNO-Gerichtshöfe zu recht als erfolgreich bewertet wird. Wenn nicht, wäre dies eine mächtige Waffe in den Händen der Gegner eines Internationalen Strafgerichtshofs.

Wie beurteilen Sie die praktische Durchführung der Arbeit des Jugoslawien-Tribunals? Wo gab es Schwierigkeiten, was zählt zu den Erfolgen?

Es sollte nicht vergessen werden, welche Schwierigkeiten bei seiner Schaffung überwunden werden mußten: Mit dem Tribunal wurde zum ersten Mal ein internationaler Gerichtshof zur Ahndung von Straftaten ins Leben gerufen. Bei den Gerichtshöfen in Nürnberg und Tokio handelte es sich um militärische Einrichtungen.

Damals standen den Staatsanwälten und Richtern die gewaltigen militärischen Ressourcen der vier Siegermächte zur Verfügung. Zudem sind die jetzt arbeitenden Gerichtshöfe von einer Organisation ins Leben gerufen worden, deren Finanzmittel knapper sind als je zuvor in ihrer Geschichte.

Die Suche nach kompetenten und erfahrenen Fachleuten ist langwierig und erfordert große Sorgfalt. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zweifellos die umfangreichsten Ermittlungen erforderlich macht, die je durchgeführt worden sind.

Funktioniert das internationale Jugoslawien-Tribunal gut?

Ab dem Zeitpunkt, als es mit ausreichend Personal ausgestattet war, wurden befriedigende Fortschritte erzielt. Gegen 74 Personen aus Serbien, Kroatien und Bosnien, die im Verdacht stehen, Kriegsverbrechen begangen zu haben, wurde wegen einer Reihe unterschiedlicher Straftaten Anklage erhoben. Das Tribunal hat demonstriert, daß es seine Arbeit unvoreingenommen und politisch neutral verfolgt. Das Hauptproblem besteht offensichtlich darin, daß die wichtigsten Personen, gegen die Anklage erhoben wurde – als die Anführer – noch nicht verhaftet und dem Gerichtshof in Den Haag überstellt worden sind.

Welche wichtige praktische Konsequenz zeigt die Schaffung des Tribunals?

Das humanitäre Völkerrecht hat damit ganz erhebliche Fortschritte gemacht. Gesetzen kann nur durch tatsächliche Gerichte, durch die Möglichkeit der Strafverfolgung, Geltung verschafft werden. Bis zur Schaffung des Tribunals wurde das humanitäre Völkerrecht lediglich als wissenschaftliches Thema gelehrt, ohen daß es dafür irgendeine praktische Anwendung gab. Die am Tadić-Verfahren beteiligten Richter haben zahlreiche Entscheidungen getroffen und eine Reihe von Urteilen verkündet, was zur Entwicklung eines lebendigen Rechtssystems geführt hat. Dies ist der Beginn einer neuen internationalen Rechtsprechung.

Welche Lehren kann man aus der Arbeit des Tribunals ziehen?

Die wichtigste Erkenntnis ist, daß ein internationales Gericht für Strafsachen funktionieren kann und daß die Arbeit eines solchen Gerichts ohne den politischen Willen der Völkergemeinschaft und ohne die Kooperation der einzelnen Staaten zunichte gemacht werden kann. Kein internationales Gericht kann erwarten, daß ihm eine eigene Polizeitruppe zur Seite gestellt wird. Kein Land würde einer solchen Truppe gestatten, in das eigene Hoheitsgebiet einzudringen.

Benötigen wir eine Ausweitung der internationalen Straftatbestände respektive ein internationales Strafrecht? Oder reichen als Straftatbestand die Verletzung des humanitären Völkerrechts, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges?

Wir verfügen über ein hervorragendes humanitäres Völkerrecht. Es ist nicht notwendig, ein neues Recht dieser Art zu schaffen. Allerdings sind in manchen Bereichen noch Verbesserungen möglich. Systematische Massenvergewaltigungen als Kriegspolitik werden im bestehenden Völkerrecht nicht ausreichend als Kriegsverbrechen behandelt. In Den Haag mußten wir improvisieren, indem wir bei Vergewaltigungen etwa Anklage wegen unmenschlicher Behandlung oder Folter erhoben. Systematische Vergewaltigungen sollten als ein gesondertes Kriegsverbrechen anerkannt werden.

Der zweite Bereich, in dem das bestehende Recht ergänzt werden sollte, bezieht sich auf die Verhaltensmaßregeln für die an einem Bürgerkrieg beteiligten Streitkräfte – sowohl auf der Seite der jeweiligen Regierung als auch auf der Seite der Freiheitskämpfer oder Befreiungskräfte. Ein Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Fehlen nicht beschneidbarer Mindestrechte, wenn Regierungen den Ausnahmezustand verhängen.

In welchen Fällen ist die internationale Gemeinschaft als Staatsanwaltschaft gefragt, und wann bleibt dies Sache der nationalen Gerichtsbarkeit?

In zwei wichtigen Fällen sollte die Völkergemeinschaft als Ankläger auftreten: Wenn die ungeheuerlichsten internationalen Verbrechen begangen werden. Bei Völkermord sollte die Völkergemeinschaft auf der Ausübung ihrer Gerichtsbarkeit beharren. Und zwar deshalb, weil die gesamte Menschheit das Recht und die Pflicht hat, Verbrecher vor Gericht zu stellen, welche die Absicht haben, ein ganzes Volk oder einen Teil dessen physisch auszulöschen.

Selbst wenn nationale Gerichte willens und fähig sind, solche Verbrecher abzuurteilen, sollte die Völkergemeinschaft ihre vorrangige Gerichtsbarkeit ausüben. Möglich wäre dies aber erst nach der Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs.

Zweitens wenn – wie im Fall von Ruanda – die Anführer, die den Völkermord organisiert haben, aus ihrem eigenen Land geflohen sind und sich mittlerweile in vielen anderen Ländern aufhalten. Wenn die für den Völkermord in Ruanda verantwortlichen Anführer nicht in einem Verfahren vor dem Tribunal Rechenschaft ablegen müssen, werden sie sehr wahrscheinlich nie für ihre schrecklichen Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden.

Die Forderung nach einem ständigen Internationalen Gerichtshof ist wiederholt aufgestellt worden. Wie müßte ein solcher aussehen, und welche Straftatbestände sollten verhandelt werden?

Nachdrücklich befürworte ich die Einrichtung eines ständigen Internationalen Gerichtshofs. Bis zur Schaffung eines solchen wird das humanitäre Völkerrecht graue Theorie bleiben, ohne praktische Resonanz. Generell besteht Übereinstimmung dahingehend, daß ein solcher Gerichtshof nur mittels eines völkerrechtlichen Vertrags geschaffen werden kann. Und der Entwurf eines derartigen Vertrags wird zur Zeit von der Internationalen Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen ausgearbeitet. Die Arbeiten an diesem Entwurf sollen im Laufe des Jahres 1997 abgeschlossen werden, und es wird angenommen, daß im Jahr 1998 die einzelnen Bestimmungen eines solchen Vertrags im Rahmen einer internationalen diplomatischen Konferenz behandelt werden.

Ein Recht, dem keine Geltung verschafft wird, kann keinerlei abschreckende Wirkung ausüben. Wird ein internationaler Gerichtshof zur Ahndung von Straftaten eingerichtet, der Kriegsverbrecher ohne Ansehen der Person strafrechtlich verfolgt – egal, wo die Verbrechen begangen wurden – dann bin ich fest davon überzeugt, daß die Zahl der Kriegsverbrechen allmählich zurückgehen wird.

Derzeit wird heftig über die Frage nach der Universalität der Menschenrechte gestritten. Wenn einzelne Kulturen ein unterschiedliches Rechtsempfinden haben, kann es dann überhaupt eine Weltrechtsgesellschaft geben?

Es gibt es einen Kern an Menschenrechten, die universale Geltung haben. Dazu gehören auch die Verbrechen, die in die sachliche Zuständigkeit des Jugoslawien- und Ruanda-Tribunals fallen. Das wahllose Töten und Verletzen Unschuldiger und die Vergewaltigung Tausender Frauen durch Soldaten – derartige Taten werden weltweit verurteilt.

Meiner Erfahrung nach versuchen diejenigen, die in diesem Zusammenhang von „kulturellem Relativismus“ sprechen, gravierende Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Schwere Mißhandlungen, Mord, Vergewaltigung und Folter haben für die Opfer die gleichen Folgen – egal, in welchem Land oder auf welchem Kontinent sie sich befinden. Interview: Markus Engels

Richard Goldstone erläutert seine Thesen ausführlich auf einem rechtspolitischen Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 18. bis 20. April in Mainz. Eine Interview-Langfassung erschien in der Februarausgabe der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“.