"Man redet nie über guten Sex"

■ Wer hat Angst vor Wilhelm Reich? Alle, die ihn mystifizieren oder mechanisieren, findet sein Biograph Myron Sharaf. Reichs Vorstellung einer "orgastischen Potenz" bleibt ein Skandal. Am Montag würde der Körp

taz: Sie waren 18, als Sie 1944 den damals 47jährigen Reich in seiner Forschungsstätte in Forest Hills in der Nähe von New York besuchten und sofort für ihn arbeiten wollten. Was hat Sie an Reich so beeindruckt?

Myron Sharaf: Es kam mir vor, als wäre ich bei der Schöpfung einer neuen geistigen Welt dabei, einer umfassenden Vision über die Zusammenhänge von Mensch, Politik, Atmosphäre, Universum. Es stimmte zum Beispiel mit meiner Weltsicht überein, daß die meisten Menschen ein relativ verzweifeltes Leben führen. Auch in positiver Hinsicht paßten Reichs Ideen zu mir. Ich lese gerne, und ich habe eine wunderschöne Passage in dem Roman „Sons and lovers“ von D.H. Lawrence gefunden, in der beschrieben wird, wie der Held und seine Frau Liebe machen. Ihre Körper werden von derselben Energie bewegt wie die Sterne und die Atmosphäre. Da war sie wieder, die reichianische Vorstellung von einer universellen Lebensenergie.

Wie war Ihre Therapie bei Reich?

Die Sitzungen waren wundervoll, auch wenn ich viele Dinge nicht angegangen bin und Reich vieles nicht aufgegriffen hat. Aber seine Körperarbeit war sensationell. Ich hatte so etwas noch nie erlebt, diese wunderbaren Empfindungen von Strömen und Offensein, von Atmen und Gefühlen. Aber ich habe mich auch über ihn geärgert. Zum Beispiel sagte er einmal: Du hättest bei der ersten Sitzung schon weinen können, aber ich wollte warten bis zur vierten – so, als ob nicht ich geweint hätte, sondern nur er allein das veranlaßt hätte. Er konnte sehr bescheiden sein, aber er hatte auch etwas von einem Guru, von einem Diktator. Man durfte froh sein, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Man sollte ihm Geld geben – nicht für persönliche Zwecke, aber für seine Forschungen. Ich weiß, es ist gefährlich, so etwas über Reich zu sagen, aber ich muß es tun, weil es wahr ist.

Reich und seine Forschungen sind nach wie vor in den USA nicht salonfähig. Mußten Sie als Hochschullehrer Ihre Sympathie für Reich verstecken?

Ja, zum Teil. Wenn ich über Charakteranalyse sprach – die Arbeit des jungen Dr. Reich –, war es in Ordnung. Auch als in den sechziger Jahren Körpertherapien aufkamen, war Reichs Körperarbeit zumindest toleriert, und einige junge Psychoanalytiker, die ich ausgebildet habe, haben, wie ich selbst, etwas davon übernommen. Auch habe ich Kurse darüber an Harvard gegeben. Das war nicht unbedingt gern gesehen, aber okay. Sobald ich jedoch den Orgon-Akkumulator erwähne, ist es aus. Ich spreche nicht viel darüber, denn wenn ich es tue, reagieren die Leute, als ob ich halluziniere, als ob ich vorübergehend nicht richtig tickte.

Haben Sie einen Orgon-Akkumulator zu Hause?

Ja, in meiner Garage, aber ich therapiere andere nicht damit. Ich benutze ihn selber von Zeit zu Zeit. Ich habe aber nicht die Art von Krankheiten, bei denen der Akkumulator besonders hilft. Mein Problem mit dem Herzen kommt vom Rauchen – vielleicht hat es der Akkumulator auf dem jetzigen Stand gehalten. Ich benutze ihn vor allem, wenn ich mich müde, lustlos fühle – wir haben ein schönes jiddisches Wort dafür: schlappi. Ich fühle mich dann klarer, voller Energie. Ich kann besser lesen, es fällt mir leichter, Treppen zu gehen und zu atmen.

Sind Sie sicher, daß das kein Placebo-Effekt ist?

Ja, weil es am Anfang überhaupt nicht gewirkt hat. Ich habe zum erstenmal mit 18 in einem Akkumulator gesessen. Ich wollte damals unbedingt, daß ich etwas spüre, weil ich für Reich schwärmte. Aber ich merkte überhaupt nichts, auch wenn ich zwei Stunden in dem Ding saß! Aus Reichs Sicht war das ganz logisch: wenn ein Mensch zu wenig Energie hat, was bei mir damals offensichtlich der Fall war. Nach einigen Monaten mit häufigen Sitzungen im Akkumulator merkte ich dann viel – schon nach einer Viertelstunde. Wenn ich meine Wange an die Akkumulator-Wand hielt, rötete sich die Haut wie bei einem Sonnenbrand.

Kann der Akkumulator gefährlich sein?

Ich gehe nicht hinein, wenn das Wetter schlecht ist, trübe und neblig. Reich meinte, daß der Akkumulator bei solchem Wetter negative Energien sammelt, auch bei starker Luftverschmutzung. Am besten ist strahlend blauer Himmel.

Reich ist wegen des Orgon-Akkumulators von den staatlichen US-Behörden, der Food and Drug Administration, in einer beispiellosen Hexenjagd verfolgt worden. 1956 wurden die Akkumulatoren unter Aufsicht von Beamten zerhackt, Reichs Schriften, die Orgon-Energie erwähnten, wurden verbrannt. Ist der Akkumulator die Grenze zwischen der allgemeinen Akzeptanz oder Verwerfung von Reich?

Ja, weil er am bekanntesten von Reichs späteren naturwissenschaftlichen Forschungen ist. Man kann mit Reich ganz clever verfahren, indem man alle nicht akzeptierten Sachen fallenläßt und andere hervorhebt. Zum Beispiel ist Reichs Beobachtung über Krebspatienten von anderen Forschern auch gemacht worden, daß diese oft Charakterzüge haben wie Resignation und daß sie Ärger nicht herauslassen können. Man kann das nehmen und anderes weglassen, aber ich habe dabei immer das unangenehme Gefühl, ich umgehe Reich.

Warum ist der Akkumulator auch heute noch so unbekannt und geächtet, wenn er angeblich so gute Wirkungen hat?

Dafür gibt es tausend verschiedene Gründe. Die Food and Drug Administration hat in den fünfziger Jahren behauptet, der Akkumulator ist gar nichts, er wirkt nicht. Daher trauen sich selbst ausgewiesene Reichianer, die Organisationen haben wie das College of Orgonomie, kaum, über den Akkumulator zu sprechen. Sie wollen keinen Ärger mit der Regierung. Außerdem sind viele Interessierte leider keine Wissenschaftler. Mein Problem ist: Ich spreche darüber, aber ich bin auch Wissenschaftler genug, um zu wissen, wenn ich etwas nicht genau weiß. Der Akkumulator hat mir geholfen, aber ich habe keine wissenschaftlichen Experimente damit gemacht.

Ich glaube aber, die Widerstände gegenüber Reich liegen in Wirklichkeit tiefer. Reichs große Trennung von den Analytikern und von der Welt begann in den zwanziger Jahren, als er eine Art von Sexualität als Ziel erklärte, die er „orgastische Potenz“ nannte. Keiner mochte diese Idee. Alle mochten eher die Vorstellung, mit Widerständen auf der Ebene von Gefühlen zu arbeiten – das war der Mainstream. Die Blockierungen in Menschen sind sehr groß, egal, ob sie in Therapie sind oder nicht. Und nur sehr wenige Menschen haben das erreicht, was Reich als „orgastische Potenz“ oder „emotionale Gesundheit“ bezeichnete. Ich glaube immer noch: sie existiert. Es ist so, als ob wir alle blind wären: Nur: Dieser Umstand heißt nicht, daß es keine Möglichkeit gäbe, sehend zu werden. Es ist nur verdammt schwierig, als Blinder herumzulaufen und anderen Blinden zu sagen, wie schön es ist, zu sehen.

Wird Reich in Deutschland eher akzeptiert als in Amerika?

Ich glaube schon, aber auch in Deutschland ist es schwierig. In den USA gibt es eingeschworene Reichianer, die eine Art Kirche bilden, unterdrückt von der Food and Drug Administration und gefangen in ihrer eigenen Tradition, einem Reich-Dogmatismus. Ich hasse das. Sie haben keine Fragen, keine Zweifel. Dann gibt es in den USA auch eine Reihe von Leuten, die mit Reichs Ideen sympathisieren, aber eher heimlich – wie Norman Mailer oder Saul Bellow. Die Schauspieler Jack Nicholson und Paul Newman waren in der Behandlung. Reich ist bekannt und unbekannt zugleich, eine Art Underground-Kultfigur. Aber es ist überall ein bißchen dasselbe: Entweder sind es Fanatiker – oder sie nehmen nur ein Stück von Reich. Aufgrund unserer eigenen Blockaden mystifizieren wir ihn.

Reich hat auch eine Wolkenbrechermaschine entwickelt, den „Cloudbuster“, der angeblich mit Orgon-Energie funktioniert und Regen machen kann. Ist das nicht total verrückt?

Auch hier gebe ich Reich einen Vertrauensvorsprung. Ich würde gerne wissen, was da dran ist. Mich beeindruckt, daß heute, 40 Jahre nach seinem Tod, wieder damit experimentiert wird. Reichs Versuche sind ja geglückt, aber hätte es nicht sowieso geregnet? Es müßten viele Experimente gemacht werden, denn die Welt um Reich ist eben in zwei Lager gespalten.

Was ist Reichs Verdienst?

Es gibt inzwischen unzählige Körpertherapien, einige mehr, einige weniger beeinflußt von Reich. Und insgesamt nimmt Körperarbeit in der psychotherapeutischen Behandlung zu. Reich ist heute weitgehend anerkannt als Großvater dieses Ansatzes. Außerdem sind seine Analysen über Sexualität großartig, auch die über Hitlers Sexualpolitik. Das Thema Sexualität, vor allem der Qualität von Sex, auf die es Reich ankam, hat sich noch nicht erledigt. Warum spricht unsere Gesellschaft nur über negative Auswirkungen von Sexualität? Aids, Herpes, Teenagerschwangerschaften, Vergewaltigung, Scheidung – man redet nie über guten Sex. Heute wird oft betont, wie wichtig das Immunsystem ist. Man kann nicht sagen, daß Reich mit seinem Energiemodell von Gesundheit und Krankheit diese Erkenntnis beeinflußt hat; die Wissenschaftler sind unabhängig von Reich dahin gelangt. Aber sie kommen zu ähnlichen Faktoren, welche die Widerstandskraft gegenüber Krankheit beeinflussen. Interview: Beate Strenge

Aktuelle Publikationen zu Wilhelm Reich – von Harry Mulisch und Nitzksche/Fallender –, siehe unsere Besprechung von Michael Schröter in der Literataz vom 20.3.