Eene, meene, mu...

■ Terror gibt es überall und in den unterschiedlichsten Formen. Bücher, die die Angst der Opfer ins Zentrum rücken

Das Gefühl, out zu sein, ist für Kinder der reine Horror. Schulkinder, von Stärkeren ins Abseits gedrängt, finden oft niemanden, der ihnen hilft, der ihre Not ernst nimmt. Diese Situation hat verschiedene AutorInnen dazu gebracht, in ihren Geschichten nicht länger die Probleme der Täter in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die der Opfer.

Ein böses Spiel

In Japan gibt es ein Spiel, das wird „Ijime“ genannt. Es ähnelt einer Treibjagd. Das Opfer wird eingekreist, bedrängt, bis es erschöpft aufgibt. Für die japanischen Kinder ist Ijime die spielerische Umsetzung des ständig stattfindenden Existenzkampfes.

Das Buch „Takeo oder das Gesetz des Stärkeren“ erzählt die authentische Geschichte des langsamen, aber unaufhaltsamen Abstiegs des klugen, aber schwachen Takeo Kimura. Die verschiedenen Erwachsenen und Kinder, die Takeo umgaben, waren unfähig, das Geschehen zu stoppen. Jeder von ihnen berichtet aus seinem Blickwinkel, wie es funktioniert hat, und jeder hatte seinen subjektiven Grund, nicht einzugreifen. Die Mutter, die Takeo nicht verweichlichen mochte. Der Vater, der wollte, daß sein Sohn sich behaupten kann. Die Freundin, die seine Hilfeschreie nicht verstand. Die Großmutter, die verstand, aber nicht helfen konnte. Der Lehrer, der aus Angst, den klugen sympathischen Jungen zu bevorzugen, sich auf die Seite der Starken stellte. Und die Klassenkameraden, die aus Neid oder Angst mitmachten.

Angefangen hatte es mit einer unfairen Kraftprobe. Takeo, der Kleinste, aber Beste seiner Klasse, verehrte den starken und mutigen Yukio, der auch Klassensprecher war. Auf einem traditionellen Umzug überließ der es Takeo, die schwerste Last der Pagode zu tragen. Takeo bestand die Kraftprobe nicht, sondern brach weinend zusammen. Da beschloß der enttäuschte Klassensprecher, daß Intelligenz und Schönheit nicht ausreichen, um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Ijime: gewinnen oder verlieren, Tod oder Leben. Die Geschichte wirkt beinahe emotionslos, schlicht und kühl. Nichts lenkt von der Grausamkeit des Spiels ab. Das geht unter die Haut.

Weiberherrschaft

In dem Krimi „Lauf, Zan, lauf“ aus Schottland steht das Mädchen Katie ganz allein gegen eine Mädchenbande. Auch Katie erfuhr – genau wie Takeo – keine Hilfe von den dafür Zuständigen. Die Eltern waren der Meinung, Katie müsse sich allein wehren. Die Lehrer beschäftigten sich lieber mit den Täterinnen. Alle gaben Katie das Gefühl, daß mit ihr etwas nicht stimmte.

Auf sich selbst gestellt, hatte Katie keine Chance. Sie war nie kämpferisch gewesen. Sie versuchte auszuweichen, ging längere, verwirrende Schulwege. Ein Müllplatz wurde zu ihrem Zufluchtsort. Doch dann hatte die Bande sie auch dort aufgespürt. Im Augenblick größter Not öffnete sich ein Pappkarton. Heraus kam ein Mädchen, schmutzig, mit verfilztem Haar, und verlangte kategorisch Ruhe auf ihrem Platz. Big Ivy, nicht an Widerstand gewöhnt, verschätzte sich in ihrer Gegnerin und bezog Prügel. Für Katie war ein Wunder geschehen. Big Ivy war besiegbar. Das seltsame Mädchen, das sie Zan nannte, hatte es bewiesen.

Katies Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Sie beschloß, Zan aus ihrem Pappkarton zu erlösen, sie als Schwester aufzunehmen. Der Vater als Kommunalpolitiker war ohnehin der Überzeugung, daß niemand in einem Pappkarton wohnen mußte. Doch bei allem hatte Katie vergessen, Zan zu fragen, ob sie gerettet werden wollte. Ein flott geschriebenes Buch, das es wagt, eindeutig Partei zu ergreifen. Ein Buch gegen die Angst der Schwachen. Denn die Bullies, wie sie in England genannt werden, leben von der Angst.

Reaktion der Angst

In diesem eher klassisch angelegten Kinderkrimi dient die Handlung eindimensional der Aufklärung der verbrecherischen Tat. Doch in diesem Buch kriegen zum Schluß fast alle ihr Fett ab. Der Vater mit seiner rücksichtslosen, angsteinflößenden Strenge, die Mutter, die mit ihren guten Absichten im verborgenen agiert, und auch der zehnjährige Sohn Ture, Opfer und Täter zugleich.

Weil Ture mit dem schrecklichen Oberlehrervater nicht reden konnte, wurde er zum Täter. Der Vater strich seine Reitstunden unter einem wackeligen Vorwand, und Ture klaute, um sich so das Geld für die Stunden zu beschaffen. Dabei wurde er von einem Schüler seines Vaters erwischt, der ihn nun erpreßte. Weil Ture Angst hatte, funktionierte auch das. Um ihn herum entstand so massiv das Gefühl der Bedrohung, daß er schließlich krank wurde. Doch anders, als er befürchtete, ließen ihn seine Freunde nicht im Stich, sondern versuchten den Erpresser einzuschüchtern. So hatte einer Angst vor dem anderen. Die Aufklärung des Ganzen haute auch den obersten Richter und Oberlehrervater um. Macht aber nichts, solche Exemplare gehören ins Museum.

Klassenkrieg

Was aus einer unkomplizierten Schulklasse werden kann, nur weil sie zwei Glatzen und einen Pazifisten als Schüler dazubekommt, schildert das Buch „Wer sich nicht wehrt“. Erzählt wird die Geschichte von einem, der immer übersehen wird, der in der Gefahr erstarrt, statt zu handeln.

Zwischen den beiden Glatzen und dem Pazifisten fing der Krieg an. Auslöserin war Tina, die damit kokettierte, daß alle sie wollten. Dafür zerschnitt Eberhard Victor das Gesicht und schlug Tina. Von da an herrschte das Gesetz des Stärkeren.

Der dünne Victor konnte sich nicht wehren. Auch alle anderen schafften es nicht, gegen Stiefeltritte und Faustschläge anzukommen. Das imponierte, die Glatzen kriegten Zuwachs. Die Klasse spaltete sich in Anhänger und Gegner. Victors Opferwerdung schritt geradlinig voran. Niemand von den Kindern konnte das aufhalten. Und die Lehrer? Sie waren wie die berühmten Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Fett macht stark

Es ist so wohltuend. Da ist ein elfjähriges Mädchen. Es ist schwarz und dick und hat damit überhaupt kein Problem. Und weil es dick ist, ist es stark. Wenn es geärgert wird, schlägt es nicht gleich zurück. Denn es ist obendrein noch klug. Es merkt sich den Angreifer, und wenn dann die Situation günstig ist, dann macht sie ihn fertig. Das trägt ihr viel Achtung ein.

Und doch erfüllt dieses selbstsichere Mädchen eine große Sorge, und die heißt Andrew. Der kleine Bruder ist genau das Gegenteil von ihr. Er ist zu dünn, zu klein, zu langsam, zu verträumt. Viele halten ihn für zurückgeblieben. Nur Yolanda weiß es besser. Ihr Bruder ist ein unerkanntes Genie, denn Andrew spielt Mundharmonika, seit ihm der Vater als Baby eine geschenkt hatte. Dad ist schon lange tot, und Mom liegt mehr daran, daß Andrew ganz gewöhnlich lesen lernt oder ganz gewöhnliche Antworten gibt, statt sich in Akkorden auszudrücken.

Aber die Kinder spüren, daß Andrew anders ist. Er setzt sich neben die drei Dealer an der Schule und verbläst mit seinen erschreckten und warnenden Harmonikaschreien die Kundschaft. Dafür zertreten die ihm Dads Mundharmonika und lernen Yolanda kennen. Sie, „der Fettsack“, verwurstet alle drei in ihrer rasenden Wut. Stolz verkündet sie, daß sie auch zukünftig keine Angst vor Angriffen von hinten hat, „kein Problem, Jungs, mein Hinterteil ist genauso groß und gefährlich wie mein Vorderteil“. Und wen wundert es jetzt noch, daß sie es schafft, die Welt davon zu überzeugen, daß ihr Bruder ein Genie ist? Gabi Trinkaus

Huguette Perol: „Takeo oder das Gesetz des Stärkeren“. Arena Life, ab 12, 9,90 DM

Catherine MacPhail: „Lauf, Zan, lauf!“ Alibaba Verlag, ab 13, 19DM

-ky: „Sonst ist es aus mit dir!“ Kinderkrimi, dtv junior, ab 10, 9,90DM

Michael Wildenhain: „Wer sich nicht wehrt“. Ravensburger, ab 13, 8,80DM

Carol Fenner: „Blues Sister“. Erika Klopp Verlag, ab 13, 22,80DM