Wie kommt die Leiche in den Schuppen?

Ein Mord am Deich: Wie Ursula Gleichfeld im Urlaub ein tödliches Eifersuchtsdrama aufklärte  ■ Aus Warwerort Jens Rübsam

Im Stall von Karl-Heinz von Postel lammen die Schafe, und im Ofen von Angelika Dermech lauert der Butterkuchen. An der Dorfstraße wartet Karl-Heinz Voß auf das Bäckerauto, und hinter dem Deich biegen die Freunde des Golfklubs ab auf die grüne Wiese. Das Postauto kommt aus Büsum, pünktlich um halb elf – wie am Briefkasten angeschrieben. Das Bäckerauto kommt aus Büsum, nur wenige Minuten später.

„Warwerort liegt am Ende der Welt“, sagt Bürgermeister Karl- Heinz von Postel, und Angelika Dermech, die Wirtin vom Deichhotel „Weißes Haus“, sagt: „Hier ist um diese Zeit eigentlich nicht viel los.“ Karl-Heinz Voß sagt: „Früher hieß das ,Weiße Haus‘ ,Weißes Haus am Meer‘“ und sei, als er noch der Chef war, um diese Jahreszeit immer geschlossen gewesen. Früher gab es in Warwerort, Kreis Dithmarschen, einen Laden, eine Schule und zehn landwirtschaftliche Kleinbetriebe, und das Meer schwappte bis vor die Hoteltür. Heute gibt es in Warwerort, sieben Kilometer vor Büsum, eine Geschäftsstelle des Golfklubs keine Schule mehr und nur noch zwei Bauern. Einer hat ein kaputtes Knie, der will demnächst aufhören, der andere, Bauer Möhrig, bewirtschaftet 180 Hektar. Das Meer hat sich 1978 zurückgezogen, durch den Deich wurde eine Straße gebaut und dahinter, 1984, eine Golfanlage mit 18 Löchern.

Eigentlich liegt Warwerort jetzt nicht mehr am Ende der Welt.

„Wir haben 230 Einwohner“, meint Bürgermeister von Postel, „viele haben hier aber nur ihren Zweitwohnsitz.“ 80 Ferienhäuser, um diese Zeit vernagelt, gähnen am Dorfesrand in die Landschaft. „Von den Einwohnern kann ich nicht leben“, sagt Hoteliersfrau Dermech, „und von den Touristen, die im Sommer kommen – na ja.“

An diesem Tag geschieht in Warwerort ein Mord. Gegen halb acht am Abend wird die Boutiquebesitzerin Margarete Gerresheim, geboren am 1. September 1946, wohnhaft in Kiel, Sternstraße 15, in einem zum Deichhotel gehörenden Geräteschuppen tot aufgefunden – erschlagen mit einem Hammer.

Was machte Frau Gerresheim in Warwerort?, Wer ist der Täter? Was das Motiv? Fragen, die zunächst ungeklärt bleiben. Die Ermittlungen werden aufgenommen.

Mord? „So etwas gab es hier noch nie“, sagt Bürgermeister Karl-Heinz von Postel. Wenn mal was passiert im Ort, dann sind das – höchstens – kleinere Einbrüche. Erst vor drei Wochen wieder einer in den Kiosk am Strand, „der dritte übrigens in diesem Jahr“. Diesmal haben die Täter die Tür aufgebrochen, letztes Mal kamen sie durch das Dach. Wieder wurden Zigaretten geklaut und Spirituosen und ein paar Lebensmittel. Jetzt hat der Gemeinderat beschlossen, eine Alarmanlage einbauen zu lassen.

Aber Mord? Da muß man schon weit zurückblättern in der Dorfchronik – bis in das Jahr 1559, als die Dänen und die Holsteiner versuchten, Dithmarschen zu erobern. In Büsum und in den Dörfern um Büsum herum landeten die Eiderstädter. Sie plünderten und brannten das Städtchen Büsum ab. Erst als der Schullehrer Nikolaus Simons seine größten Schulknaben auf Pferde steigen und die Frauen mit Spießen und Mistgabeln bewaffnen ließ (die Männer waren im Krieg), erst da gelang es, die Eiderstädter auf die Schiffe zurückzudrängen. Die Bilanz: 14 Männer aus Warwerort sind umgekommen.

Und nun liegt Margarete Gerresheim draußen im Schuppen, tot.

Drinnen im „Weißen Haus“ sitzen die Hotelgäste und warten auf das Abendessen. Erst gibt es Sekt bei Kerzenschein, dann wird Bier und Wein bestellt, und dann wird das Buffet eröffnet. Hans-Dieter Helms, der Diplomvolkswirt aus Itzehoe, ist der erste, und Liselotte Lange, die 70jährige Dame aus Kiel, geht noch einmal nach vorn, ihrem Arthur einen Nachschlag Mousse au chocolat holen. Es wird gefeixt und gescherzt und getrunken, man lernt sich kennen: Stefanie und Thorsten, das Pärchen aus Goslar, Anke und Christian, das Pärchen aus dem schleswig-holsteinischen Heilendorf. Am anderen Tisch schwatzt Liselotte Lange mit Edith Nicklaisen aus Hamburg. Zwischendurch sagt sie zu Arthur: „Ist doch schön, mal nicht allein zu Abend essen zu müssen.“ Arthur nickt und lächelt und löffelt weiter Mousse au chocolat. Edith zündet sich eine HB an, und Liselotte erinnert an ihr Bronchialasthma – meint dann aber: „Rauchen Sie ruhig weiter, mich stört das nicht.“

Mitten hinein in diese Wohnstubenidylle platzt die Nachricht vom Mord an Margarete Gerresheim.

Was fortan in Warwerort geschieht, dürfte einmalig sein in der deutschen Kriminalgeschichte. 38 Hotelgäste stürmen hinaus in die Nacht zum Tatort, dem Geräteschuppen. Sie wollen gucken, wer da liegt. Wollen wissen, wer die Tote ist. Wollen Spuren sichern und die Ermittlungen aufnehmen. Wollen einmal Fernsehen spielen, Freitag abend, Viertel nach acht. Wollen sein wie Derrick, Sherlock Holmes oder Columbo, wie Lena Odenthal, Bella Block oder – natürlich – wie Miss Marple.

Ursula Gleichfeld beispielsweise. Eine grazile alte Dame mit grauem Haar, braunem Strickkleid und langen goldenen Ohrringen. Bis vor kurzem noch war sie als Krankengymnastin in Kiel tätig, noch immer ist sie Statistin am Theater, jahrelang war sie Schöffin bei Gericht. Sie hat Gedichte geschrieben, sich bei Frank Elstners „Jeopardy“ beworben, „weil ich so gern um die Ecke denke“. Sie schmökert durch Krimis, fiebert mit Columbo und wollte, wie sie gesteht, schon immer mal Detektiv sein. Genauer gesagt: Schon immer mal Miss Marple sein.

Stefanie Kopitz aus Goslar beispielsweise. Sie liebt Horrorfilme. Sie hat schon immer Horrorfilme geliebt. Sie schaut auch dann welche auf Video an, wenn sie allein zu Hause ist. Tagsüber sitzt sie im Büro, „ziemlich öder Job“, abends braucht sie einen Nervenkitzel, wenn es sein muß Horrorfilme oder Geisterbeschwörungen. „Ich habe schon mal meinen Opa Willi angerufen.“ Auf dem Tisch stand ein Kerzenständer in Totenkopfform, ein Beschwörungsbrett lag daneben, und im Hintergrund waberte „Das Omen“ durch den Raum – und „Opa Willi hat geantwortet“. Stefanie Kopitz, ganz in grün und mit rotem Haar, ist der Typ Lena Odenthal.

Dirk Strobach aus Dortmund beispielsweise. Ingenieur ist er geworden, Polizist wollte er werden – wie jedes Kind. Er liebt Aufgaben, vor allem schwierige, „weil man logisches Denken braucht, um die zu lösen“. Spuren schleicht er gerne nach, Zusammenhänge stellt er gerne her, Ehrgeiz kann er bis zum Äußersten entwickeln. Schon immer mal wollte Dirk Strobach, Typ: blonder Bengel in Jeans, schon immer mal wollte er ... „Ach, wissen Sie, eigentlich lese ich gar keine Krimis und schaue mir auch keine im Fernsehen an.“

Margarete Gerresheim ist tot, und die Aufregung tobt durch das „Weiße Haus“. Dirk Strobach tappt im Dunkeln, versucht, logisch zu denken, zwängt sich schließlich in das Auto des Opfers (KI-PB 150) und sammelt Details: Kippenstummel, lose Seiten aus einem Modejournal, Visiten- und Fahrkarten. Eine Plastiktüte läßt er sich reichen, alles rein, alles sicherstellen. Ursula Gleichfeld hat ihre Schöffenrolle wiederentdeckt. Sie befragt jeden Gast, auch den Herrn Welge, der – nach der Mordnachricht – ziemlich bedeppert dreinschaut. „Was bedrückt Sie eigentlich die ganze Zeit?“ will Miss Marple im Strickkleid wissen und bohrt so lange nach, bis Welge zugibt, Frau Gerresheim gekannt, ja sogar mit ihr ein Verhältnis gehabt zu haben. Anna Welge, seine Frau, bricht in meeresgroße Tränen aus, macht ihm eine Szene und ersäuft den Schmerz mit „Geele Köm“ an der Hotelbar. „Ein Verhältnis?“ Ja, ein Verhältnis.

Eifersucht? „Nein“, wispert Liselotte Lange ihrem Arthur ins Ohr, „nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Frau eine Frau umbringt.“ Arthur kann es auch nicht. Er nickt und lächelt und würde am liebsten den Mord Mord sein lassen. Wie er ja auch immer einschläft vor dem Fernseher, wenn Liselotte Krimis schaut.

Langes sind 45 Jahre verheiratet, und Liselotte hat schon viele Krimis in ihrem Leben gesehen. „Der Matula hat nie Geld. Dem 007 geht es nur um Frauen. Und über den Columbo ärgere ich mich immer. Da weiß man doch schon am Anfang, wer der Mörder ist.“ Daß das nicht schön ist, mußte mal gesagt werden.

Wer Margarete Gerresheim erschlagen hat, klärt sich auf, noch an diesem Abend um 22.41 Uhr. Herr Schmidt war es. Auch einer, der mit der Gerresheim ein Verhältnis hatte. Eine Dreiecksgeschichte kombinieren die Hotelgäste.

Durch die Tür spaziert Margarete Jäschke, Mädchenname Gerresheim, und Anna Welge (Ines Kumerow) hört auf zu trinken. Herr Welge (Rolf G. Wannags) schaut nicht mehr betroffen drein, und Herr Schmidt (wirklich Herr Schmidt) gibt sich als Hauptkommissar a.D. zu erkennen, „2. Kommissariat, Oldenburg“. Angelika Dermech, die Wirtin, bringt Getränke, und Elke Höver, die Chefin der Theatergruppe „Mordsmanager“, klärt auf: Alles nur ein Spiel, alles halb so schlimm. Kein Mord, keine tote Frau, kein Mörder – in Warwerort, am Ende der Welt, ist die Welt wieder in Ordnung.

„Irgendwann“, sagt Elke Höver, „ist uns die Idee mit dem Krimispielen gekommen.“ In England hat so etwas Tradition, in Deutschland gab es so etwas bisher noch nicht. Die Idee war da, der richtige Ort fehlte. Bis Elke Höver und Dagmar Bez, die Diplomsozialwirtin, Angelika Dermech und ihr Hotel kennenlernten. Da war er gefunden, der richtige Ort, einsam gelegen vorm Deich und innen ausgeschmückt mit verstaubtem Plüschcharme, kleinen Spinnweben in den Ecken, knarrenden Treppenstufen und quietschenden Türen. Fehlte nur noch der Fall, der war schnell ausgedacht, und ein paar Laienspieler, die waren schnell gefunden. Inzwischen ist aus den „Mordsmanagern“ eine Firma geworden – „die Nachfrage an Krimi-Wochenenden ist riesig“, sagt Elke Höver. Zu erklären ist das vielleicht so: In jeder und in jedem steckt ein Detektiv, lauert die Lust, einmal einen Mordfall aufzulösen, schwelt der Wunsch, einmal etwas Außergewöhnliches zu erleben – fernab von Mattscheibe und Alltag.

Angelika Dermech ist froh, auch um diese Jahreszeit Gäste in ihr „Weißes Haus“ locken zu können. Immer dann, wenn Crime- Time ist, sind die Betten belegt. „Ich hoffe, dadurch überleben zu können.“ Karl-Heinz Voß hofft das gleiche. Das „Weiße Haus“ ist noch immer seins. Frau Dermech ist die Pächterin, seit 1988, und leicht hat sie es nicht.

Leicht hat es hier in Wawerort keiner um diese Jahreszeit.

Bürgermeister Karl-Heinz von Postel ist erstaunt, daß „so ein Mord so gut ankommt“. Dem Dorf könne das nur gut tun. „Sie wissen ja, die Büsumer Schiffswerft hat vor zehn Jahren dichtgemacht, 400 Arbeitsplätze sind den Bach runter gegangen, viele Bürger aus Warwerort waren davon betroffen.“ Und die Landwirtschaft – mein Gott, die Landwirtschaft! „Wer noch was macht, verkauft Kohl am Straßenrand.“

Im Stall schreien die Schafe. An der Hose von Karl-Heinz von Postel klebt Blut.