■ Art goes out (Teil I): Das Kunstwerk zur Hungerkur
: Politisch korrekter senkrechter Rasen

„Die Kunst muß raus aus den Museen“, forderte schon Marcel Duchamp vehement – vergeblich: Schließlich galt es, Planstellen zu sichern und Ausstellungsetats nicht zu gefährden. Damit ist jetzt Schluß, endlich scheint Duchamps Postulat Gehör zu finden. Neuerdings reißen sich die Art Consultants, Mäzene und Investoren geradezu darum, ihre Kunstprojekte außerhalb der etablierten Kunsträume präsentieren zu dürfen – allerorten. Weil das so schön ist, und weil es meistens auch reichlich Champagner und Kaviar gibt, wird „Die Wahrheit“ in loser Folge ausgewählte Projekte vorstellen.

Lothar Baumgarten mag Jan Hoet, das ist unübersehbar. Und Jan Hoet mag Lothar Baumgarten, deshalb durfte der Künstler aus Düsseldorf für die documenta IX in Kassel 1992 die Wände des zentralen Zwehrenturms neben dem altehrwürdigen Museum Fridericianum mit Spielkartensymbolen bemalen – und mit Worten. „Embryotransfer“ war da mitten in der Innenstadt zu lesen und „Symbiosepartner“, „Irrtumsrecht“ und „Sekundärbiotop“ – lauter deutsche Neologismen, die bis dato in keinem Wörterbuch zu finden waren und ironisch vorführten, wie sehr die Sprache schon die Wirklichkeit ersetzt hat. Und so standen die Menschen sprachlos vor Baumgartens Kasseler Sprachbilderturm und staunten erschrocken, bis die Ampel hinüber zur documenta- Halle grün wurde.

Inzwischen hat Lothar Baumgarten nach zahlreichen Einzelausstellungen in New York und Frankfurt, Edinburgh und Paris sein Primärbiotop gefunden, und wieder war Jan Hoet dabei. „Das große Rasenstück“ heißt des Künstlers neueste Arbeit, verkündet stolz der Pressetext der privaten „Buchinger-Fachklinik für Heilfasten, Psychosomatik und Präventivmedizin“ in Überlingen am Bodensee: „Sie ist eine der raren, großen, nicht musealen, aber öffentlich zugänglichen Arbeiten.“ Das zugehörige Pressefoto zeigt einen eher ratlosen Künstler, der vor dem Wort „Eichelhäher“ seine Farbmusterkarten sortiert und der bilderschaffenden Kraft der Worte zu mißtrauen scheint. Allein sein „Stab“ steht an der richtigen Stelle.

40 Meter lang und 12 Meter hoch ist die Wandzeichnung, auf der Lothar Baumgarten Flora und Fauna der Bodenseeregion in 141 Worten verewigt hat; nur in Worten, der ganze Bodenseewald auf 480 Quadratmetern senkrechten Rasens. Adlerfarn, Akelei und Alraune, Brennessel und Engelwurz, Hauhechel, Königskerze und Kürbis. „Die Namen und die Aromen“, erklärt Baumgarten dazu, „die ihnen signifikanten Farben und ihre morphologische Erscheinung im Verein mit ihrer Geschlechtlichkeit und den verwandtschaftlichen Beziehungen antizipieren die Spezies. Da ist die phonetische Dimension ihres Klangs, die kulturgeschichtlichen Bedeutungen, ihre pharmakologische Verwertbarkeit, die Unverzichtbarkeit in der Küche, ihre Symbolkraft und nicht zuletzt ihr oft betörender Duft.“ Ein einfacher Waldspaziergang sei damit nicht vergleichbar: „Die Nachbarschaft von Namen kann durch ihre unterschiedliche Farbigkeit gemeinsam ein ,neues Drittes‘ bilden oder beispielsweise die Nähe von Hahnenfuß und Salamander in Gelb und Schwarz der Schrift beider Worte einen Hinweis auf die tatsächliche Färbung des Salamanders geben.“

Für diese bahnbrechenden Erkenntnisse, deren Umsetzung die Überlinger Nobelklinik für überarbeitete Wohlstandsbürger bezahlte, attestierte Freund Jan Hoet dem Künstler bei der Enthüllung des „großen Rasenstücks“, er sei ein „intellektueller Bombenleger, der dem an der Renaissance, dem Kolonialismus, Imperialismus und paternalistisch-ethnographisch geschulten Denken den Kampf angesagt hat – und das lange bevor in Amerika der Begriff ,political correctness‘ erfunden wurde.“ Und niemand, der wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ den erlösenden Satz gerufen hätte: Aber er ist ja ganz nackt.

Zu besichtigen ist Baumgartens Wandbild in Überlingen grundsätzlich für jedermann, praktisch aber vor allem für die Gäste der Fastenklinik. Schließlich habe der Künstler, so deren Leitung, mit den 141 Begriffen nicht allein die Flora und Fauna des Bodensees, sondern auch noch „gleichzeitig die ganzheitliche Methode der Heilfastenklinik Buchinger“ beschrieben. Stefan Koldehoff

Klinik Buchinger am Bodensee, Wilhelm-Beck-Straße 27, 88662 Überlingen, Telefon: (07551) 80 70