Der Leser als Ereignis

Die Leipziger und ihre Freude an Vorgelesenem. Nach dem für nächstes Jahr geplanten Umzug in die neuen Messehallen außerhalb der Stadt könnte die Leipziger Buchmesse viel von ihrem Charme als Publikumsmesse verlieren  ■ Von Harry Nutt

„Eisige Zeiten“ heißt ein neues Buch von Pfarrer Friedrich Schorlemmer, in dem er sich einen Reim auf den Zustand der Gesellschaft macht. Die Abpanzerung der Seelen und die zunehmende Erkaltung des Sozialen machen ihm zu schaffen. Schorlemmers Text ist holprig, aber zur besseren Verständigung wird das blaue Büchlein, das ein wenig aussieht wie ein Gesangbuch, zum Kauf angeboten, wovon die rund 800 Besucher der Leipziger Stadtbibliothek auch regen Gebrauch machen. Junge Menschen lesen andächtig mit dem Finger mit, und wiederholt bekunden Ältere eifrig ihre Zustimmung zum Gehörten durch demonstratives Nicken. Ein spezifischer Feind ist in Schorlemmers Klagegebet nicht auszumachen. Mal ist's der Kanzler, immer und überall ist's die Raff-, Fun- und Sonstwiegesellschaft. Und irgendwie sind's immer auch noch die alten Bonzen aus dem Osten. Schorlemmer erntet Szenenapplaus für seine populistischen Simplifizierungen: „Es sollte nur das Eigentum dessen geschützt werden, der es selbst erarbeitet hat.“ Aber auf ihn hört ja keiner. Das große Ganze läuft schief, die Wetter werden kälter.

Dabei ist gut geheizt, und eine wohlige Freundlichkeit kriecht durch den Saal. „Leipzig liest“ heißt das Rahmenprogramm zur Buchmesse mit mehr als 420 Veranstaltungen an vier Tagen, der Autor zum Anfassen in und um die engen Alten Messehallen.

Ein spürbares Wohlwollen schlägt auch Jutta Raulwing entgegen, während sie ihren Debütroman „Der General, Marlene Dietrich und ich“ liest. Ein wenig irritiert verläßt sie dann allerdings die Bühne des „Berliner Zimmers“, weil niemand so recht etwas von der jungen Autorin, zur Auskunft über literarische Beweggründe durchaus bereit, wissen möchte. Selbst ein routinierter Hase wie Wolf Biermann, eines strengen wie ausdauernden Dozierenwollens nicht ganz unverdächtig, hat sich zum Signieren und zur Erheiterung des Publikums ein hübsches Kunststück einfallen lassen. Mit rechts und links gleichzeitig malt er seinen Schriftzug zügig und expressiv einerseits, krakelig und spiegelverkehrt andererseits aufs Plakat. Der Leser ist in Leipzig das Ereignis, und er weiß es. Der Autor hat gefälligst seine Aufmerksamkeit zu erregen. Da bleibt erstaunlich wenig Raum für Diskussion und Streit. Früher war Leipzig auch eine Börse für Geheimes und Subversives. Von solcher Atmosphäre spürt man noch immer etwas. Nach andächtigem Hören verlassen die Messebesucher den Ort und suchen eine neue Lesestätte auf. Die offensichtliche Freude am Vorgetragenen ist so gesehen eine Variation der Leipziger, „Wir sind das Volk“ zu sagen. Ein einfacher Aussagesatz, aus dem kein Anspruch auf eine Akteursrolle mehr abzuleiten ist. Dazu paßt vielleicht, daß Gerhard Zwerenz und Hermann Kant nach 40jährigem Zerwürfnis und Funkstille öffentlich und gut angekündigt wieder miteinander Konversation betrieben.

Gewiß, es wurde auch debattiert, am eifrigsten im „Baltischen Café“, wo es allerdings weniger um literarische Fragen, sondern um Alltagsbelange in Lettland, Estland und Litauen ging. Der Länderschwerpunkt der Messe entfachte tatsächlich ein Informationsbedürfnis, das über ein folkloristisches Maß weit hinausging. Später, einsam am Verlagsstand auf Gesprächspartner wartend, sah Litauens Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis, der sein Buch „Jahre der Entscheidung“ vorstellte, Jan Philip Reemtsma zum Verwechseln ähnlich.

Weil die Nähe zum Dichter auf der Leipziger Messe einfach zu haben ist, ergibt sich die Möglichkeit zum Austausch en passent zwischen den Verlagskojen. „So viele Bücher der Weltliteratur, die ich noch nie gelesen habe“, klagt da der Leser Biermann einem Leserkollegen sein Leid, daß man sich freut, den Auslöser vom langen Untergang der DDR fröhlich an traditionsreicher Stätte und so wenig sinndräuend zu sehen.

Der betagte, imposant wirkende Lew Kopelew hat in den Verlagsgassen ein wenig die Orientierung verloren und findet freundliche Passanten, die ihm und seiner Frau den Weg zum Steidl- Verlag weisen, wo sein „Aufbewahren für alle Zeit“ in Taschenbuchform wiederaufgelegt worden ist. Ja, Bücher, sie spielen auch eine Rolle auf der Messe. Erich Loest indes weiß den Kaffee am taz- Stand zu rühmen und meldet sich für eine spätere Tasse an, ehe er zu einer weiteren Lesung eilt.

Zur Buchmesse feiern sich die Leipziger und ihre Stadt selbst und lassen Fremde gern daran teilhaben. 1.620 Aussteller aus 33 Ländern auf 8.146 Quadratmetern. Letzteres ist das Problem. Die Leipziger Messe hat an Bedeutung, zunächst einmal in kommunikativer Hinsicht, gewonnen. Noch freilich klagen viele Verlage über schlechte Abschlüsse. Die kalte, aber erfolgreiche Geschäftigkeit, da hat wohl Schorlemmer recht, paßt besser zu Frankfurt. Ein bißchen Frankfurt vor den Toren der Stadt hat auch Leipzig, weshalb man mit den Büchern im nächsten Jahr in die neue, lichtdurchflutete Glashalle umziehen will. Die Leipziger, fürchten viele, werden dann die Lust verlieren, Publikum zu sein. Das Sehnen nach den engen, aber kuscheligen Verhältnissen beginnt bereits jetzt. Ich jedenfalls habe mir ein Lesezeichen aufgehoben, das nahelegt, daß auf Messen immer auch ein Mangel verhandelt wird. Es trug die Aufschrift: Verlag sucht Autoren.