Loblied auf die Verhältnisse

■ "Meine Figuren denken nachts an ihre Chefs, und sie wissen, daß ihre Chefs nicht an sie denken" - Martin Walser, Porträtist der Chauffeure und Studienräte, wird siebzig

In den frühen 80ern hatte die Frankfurter Goethe-Universität Martin Walser eine Gastdozentur für Poetik angeboten. Sein Thema: Selbstbewußtsein und Ironie. Für den Praktiker des „verschwiegenen Systems“ – einer Schreibweise, die keine Behauptung, keine Letztbegründungen, kein Weltanschauungsgedröhn aufkommen lassen will – muß das eine seltsame Situation gewesen sein. Die Karten mußten auf den Tisch.

Daß er nicht davor zurückschreckte, hing wohl einerseits damit zusammen, daß seine letzten Schuljahre vom Krieg und die zweite Hälfte seiner Studienzeit von der Währungsreform verschluckt worden waren – und er nun, auf Einladung, damals Versäumtes nachholen konnte. Zum andern spricht – vor allem aus den Passagen, die Thomas Mann gewidmet sind – ein gewisses antibürgerliches Ressentiment aus den Vorlesungen, das ebenfalls einen kräftigen Antrieb gegeben haben mag. In einem großen Bogen von Fichte über Schlegel bis eben zu Thomas Mann beschreibt Walser die romantische Ironie als eine Art Sessellift aus der bürgerlichen Subalternität des 18. Jahrhunderts ins „Über-allem-Schweben“ des 20., vollendet in einer Figur wie Tonio Kröger, der, wie er stolz von sich sagt, „die Partisanen jedes Prinzips beschämt, indem man es vollendet – und das andere auch... Weltherrschaft als Ironie und heiterer Verrat des einen an das andere, damit hat man die Tragödie unter sich...“ Tonio Kröger, schreibt Walser wütend, ist der Bürger, der wegen Wohlversorgtheit und Überausstattung ein Luxusproblem erleiden mußte.

Gegen diese „Leidenslage zwischen Künstlertum und Bürgertum“ macht Walser eine Figur wie den Tuchhandelsreisenden Gregor Samsa stark, der ein einziges Mal morgens nicht zu seinen Vertreterbesuchen aufbricht – mit denen er seine Eltern und seine Schwester über Wasser hält – und prompt als Käfer erwacht, als der Parasit, als den man ihn wegen seines kleinen Versäumnisses schon ansieht. Aus diesem Sichkleinmachen, der Lebenshaltung des Kleinbürgers, kann für Walser bessere Literatur werden als aus dem metaphysischen Schweben, das sich besonders in den aufsatzartigen Passagen von Thomas Manns Romanen bemerkbar macht. Wo mehr Größenwahn drinsteckt, ist allerdings noch nicht raus.

Am Beispiel eines Buches von Marcel Reich-Ranicki über die Juden in der deutschen Literatur vergleicht er die jüdische Minderheitenerfahrung mit der des Kleinbürgers, dessen Selbsthaß noch den schlimmsten Mangel gutheißt – ihn aber eben dadurch, so findet jedenfalls Walser, hervorhebt, ironisch, und so die Verhältnisse doch noch zum Tanzen bringt.

Daß Walser in Gregor Samsa einen Verwandten findet, ist nicht überraschend. In dem Dorf Wasserburg am Bodensee, wo er aufwuchs, hatten seine Eltern einen kleinen Gasthof. Im Sommer mußte er täglich in einem Schnüffelrundgang bei den Konkurrenzunternehmen kontrollieren, wie viele Gäste dort saßen. Sein Vater, ein glückloser Geschäftsmann, der mit 49 Jahren an einer Zuckerkrankheit starb, hinterließ dem Elfjährigen, dessen Bruder bereits eingezogen worden war, Abrechnungen, Zuteilungsscheine und die gesamte Bewirtschaftungsbürokratie einer Kohlenhandlung, die er neben dem Gasthof noch notdürftig betrieben hatte. „Zusammen mit einem Kriegsgefangenen“, so erzählte Walser seinem Biographen Anthony Waine, „habe ich pro Jahr 36 Waggons Kohlen ausgeladen und in die Keller und Dachböden der Witwen und Bäckereien geschleppt.“ Aus der Schule fragte man daraufhin seine Mutter, ob sie einen Oberschüler wolle oder einen Kohlearbeiter, sie solle sich da entscheiden.

1943 wurde er zur Heimatflak abbeordert, nur um 1945 prompt in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Wegen eines in Heine-Manier gehaltenen Gedichts wäre ihm fast das Abitur aberkannt worden. Als er es schließlich doch bekam und nach Tübingen an die Universität ging, traf ihn der Großstadtschock mit Macht; an Hans Beumann, dem jungen „Zeitungswissenschaftler“ aus seinem ersten Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957) ist er noch zu erkennen.

Durch Theaterarbeit an einer Regensburger Studentenbühne knüpfte er Kontakte zum Süddeutschen Rundfunk; gemeinsam mit Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger bildete er eine Truppe von „Anstößigen“, die sich durch Beiträge zu Themen wie dem deutsch-polnischen Verhältnis oder Wiederbewaffnung unbeliebt gemacht hatten. Schon möglich, daß Walsers Präzision im Porträtieren auch von den unzähligen Interviews herrührte, die er damals mit Architekten, Bürgermeistern, Pfarrern und anderen Exponenten des Wiederaufbaus führte.

Er hat sich, mittlerweile, mit einem ganzen Kosmos von Figuren umstellt, die zum Teil auch Wiedergänger sind. 1960 erschien der erste Band der Anselm-Kristlein- Trilogie, „Halbzeit“ (gefolgt von „Das Einhorn“, 1966, und „Der Sturz“, 1973), der große Desillusionsepos eines Vertreters, dem seine Familie zum Schlangennest und sein langsamer Aufstieg zur schrittweisen Auslieferung an die andern wird („Ich bin Don Quixote, nachdem er gelesen hat, was Cervantes über ihn schrieb“). Im dritten Band ist Kristlein Schriftsteller. In „Ein fliehendes Pferd“ (1978) führt Walser den Stuttgarter Studienrat mit dem bereits Not signalisierenden Namen Helmut Halm und den Immobilienhändler Gottlieb Zürn sowie dessen Vettern Xaver Zürn (dem von Durchfallattacken geplagten Chauffeur aus „Seelenarbeit“, 1979) und Franz Horn („Jenseits der Liebe“, 1976) ein. Daß er für „Brandung“, (1985), dem Roman, in dem der gescheiterte Helmut Halm wieder aus San Francisco zu seiner Frau zurückkehrt, mehr bewundert wurde als je zuvor, könnte damit zusammenhängen, daß das tragische Finale für einige der Kritiker die Durchschnittlichkeit seiner Protagonisten kompensiert hat.

Die etwas lustlose Haltung der Kritik vielen seiner Kleinbürger gegenüber machte sich auch bei seinem Schlüsselroman „Finks Krieg“ (1996) bemerkbar, in dem er sich des Falles eines befreundeten Wiesbadener Beamten angenommen hatte, der einen wahnhaft-obsessiven Kampf gegen seinen Vorgesetzten führt.

Seine essayistischen Interventionen in deutsch-deutsche Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung ließen öfter mal die Trennschärfe vermissen, die er beispielsweise bei der Beschreibung eines Gesichts an den Tag legt: „Sein Schildkrötengesicht hatte zu seiner traurigsten Möglichkeit gefunden“ heißt es in „Das Einhorn. Aber in „Über Deutschland reden“, einem 1988 in der Zeit erschienenen Beitrag: „Was da so polemisch gegeneinander wütete, ist mir als eigenes Innenleben bekannt. Habermas und Hillgruber haben meinungsmäßig bequem in mir Platz.“ Als er daraufhin angegriffen wurde, wehrte er sich im Spiegel mit einer zornesroten Medienschelte, was nicht eben souverän wirkte. Im nachhinein ist aber – natürlich auch durch die Wiedervereinigung – völlig unverständlich, warum sein Wunsch, nach Leipzig in die Oper gehen zu können, oder seine gewiß abenteuerliche These, die Linken seien mit ihrer antinationalen Haltung für die Aktionen der Neonazis verantwortlich, solche Empörung auslösten. Das wird ihn erinnert haben an seine Auseinandersetzung mit der DKP, der er in den 70er Jahren noch nahestand. Damals hatte er gefordert, bei Länderspielen Deutschland–Sowjetunion solle die Partei zur deutschen Mannschaft halten. Man hatte ihn als romantischen Kleinbürger belächelt. Mariam Niroumand