: Die Zwangsvorstellung: kein Lebensersatz
Arbeitslosigkeit, Kindesmißbrauch, Kohl forever und keine Terroristen in Sicht: „Schlacht um Europa. Ufokrise '97: Raumpatrouille Schlingensief“ in der Volksbühne Berlin zeigt den Regisseur Christoph S. ehrlich verbittert ■ Von Petra Kohse
Daß das Theater des Christoph Schlingensief eine höchst moralische Angelegenheit ist, merkt man daran, daß man sich hinterher immer schlecht fühlt. Wie lustig exhibitionistisch und provokationswütig das Geschehen auf der Bühne auch sein mag, der Spaß daran wird einem durch die prinzipiell vorwurfsvolle Haltung gegenüber dem Publikum immer auch irgendwie vergällt. Schlingensief läßt keinen Zweifel daran, daß er und seine Truppe aus Schauspielern sowie zum Teil behinderten Laiendarstellern sich nur deswegen so rückhaltlos zum Affen machen, weil wir so duldsam spießig und ignorant sind. Weil wir unsere Ruhe wollen, ist seine auf immer dahin.
Die neueste Inszenierung des 36jährigen Theater- und Filmregisseurs nimmt sich nun diesen Umstand besonders zu Herzen. Christoph Schlingensief hat tatsächlich seine persönliche „Ufokrise“ genommen und neben dem üblichen Maß an Wut, Zerstörungslust und Unduldsamkeit auch eine eigene Ratlosigkeit zum Thema gemacht, die nachgerade authentisch wirkt. Arbeitslosigkeit, Kindesmißbrauch, Kohl forever und nirgendwo Terroristen in Sicht – er kann nicht mehr, und wir sind schuld. In „Schlacht um Europa“ geht es entsprechend ums Ganze.
Es beginnt noch recht selbstbewußt mit einer Szene vor dem Theater, in der Schlingensief mit den Schauspielern Sophie Rois und Bernhard Schütz einem Trompetenkonzert lauscht und zu „We shall overcome“ ein Transparent mit Volksbühnenlogo und Deutschlandflagge gehißt wird. Danach schleusen Ordner in weißen Schutzanzügen das Publikum auf die Bühne, wo eine längere Szene aus Fellinis „8 1/2“ mit Mastroianni als desorientiertem Filmregisseur läuft. Erst nach vielleicht 15 Minuten öffnet sich der Blick auf die Bühne, und Mozarts „Requiem“ dräut. Das alles soll auf die Stimmung schlagen und tut es natürlich auch.
Mit Zuckerbrot und Peitsche geht es weiter. Gerade freut man sich noch, wie schön die Künstlerin Laura Kikauka das Volksbühnenparkett zum Inneren eines Raumschiffs umgebastelt hat (mit Alufolie auf den Sitzen, herabgelassenem Kristallüster und einer Kommandozentrale, an der gutgelaunt Mario Garzaner waltet), da hört man, wie die Raumstation „Peenemünde“ angefunkt werden soll (V2! Wernher von Braun!! Tödliche Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen!!!).
Später darf das Publikum auf den Sitzen Platz nehmen, am Overheadprojektor erklärt Schlingensief die Tiefe des Daseins, indem er Punkte zu Tunneln verwandelt, Mario Garzaner singt an der Harfe „Bringt mir den Kopf von Helmut Kohl“, Lookalikes von Stephen Hawking und Sigrid Löffler treten auf, und als Vertreter von 4,7 Millionen Arbeitslosen wird immer wieder auf den auf einem Stuhl vor sich hin dämmernden Darsteller Werner Brecht verwiesen.
Eigentlich müßte das alles ziemlich lustig sein, ist es aber nicht. Was an der emotionalen Verfassung von Herrn Schlingensief liegen mag. Sein Theater funktioniert immer über ihn ganz persönlich, über seine charismatische, selbstentblößende Unberechenbarkeit. Aber in der ersten von geplanten 42 Folgen der „Schlacht um Europa“ wirkt er so ehrlich niedergeschlagen, daß auch das Publikum quasi reglos in den Reihen sitzt. Irgendwann brüllt er eine Stehlampe an: „Das Licht muß angehen, bevor man den Schalter berührt. So! So! So!“
Daß dies dann auch klappt, macht die Verzweiflung des Regisseurs und Hauptdarstellers aber nur noch größer. Denn es klappt ja nur, weil wir im Theater sind! Offenbar ist Schlingensief in „Schlacht um Europa“ nicht mehr damit zufrieden, der Anführer eines Antispießer- und Spaßterroristenrollkommandos zu sein. Vielmehr sucht er das wahre Leben in der Zwangsvorstellung und ist verbittert, weil er es nicht findet.
Ein imaginäres Kind auf dem Arm, fahndet er dann noch nach einem Kindesmißbraucher im Publikum und entdeckt ihn in „CDU- Generalsekretär Peter Hintze“. Im Anschluß berammelt ein Darsteller eine Puppe mit Affengesicht, dazu läuft ein Film über die Beschneidung afrikanischer Jungen. „Ein Kastrationsvideo, mein persönlicher Bluteimer“, sagt Schlingensief ohne Ironie. Später wird Artaud gelesen.
Immer wieder singt auch die Callas, der arbeitslose Werner Brecht wird ermutigt, einige österliche Mitbringsel zu versteigern, geht dann aber lieber gleich mit dem Sammelhut durch die Reihen, und ganz am Ende trägt der kleine Mario Garzaner ein Elefantenkostüm. Kokett spielt er mit seiner Rüsselmütze und verbeugt sich tänzelnd neben dem schwerfälligen Brecht.
Auch den Regisseur und die anderen Darsteller hätte man gerne noch einmal gesehen, um zu überprüfen, ob sich die Ernsthaftigkeit dieser rhythmisch und bildlich insgesamt sehr gelungenen Parade der Anklagen und Vorwürfe bei einer Verbeugung nicht doch noch in fröhlichen Spielwillen auflösen könnte.
Aber nach getaner Arbeit will Christoph Schlingensief vom Publikum weder etwas sehen noch hören: Er bleibt verschwunden und wirft sich noch im Off als definitiver Selbstversorger in Pose, wenn er tosenden Applaus von Band einspielt. Die Ansätze zum Klatschen im echten Publikum verebben entsprechend rasch. Nur ein einziger Zuschauer fordert: „Komm raus!“, als die anderen sich schon entkräftet Richtung Ausgang schieben.
„Schlacht um Europa. Raumpatrouille Schlingensief“. Eine Ufokrise in 42 Folgen. Regie: Christoph Schlingensief, Bühne: Laura Kikauka, Kostüme: Tabea Braun. Volksbühne Berlin
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