■ Der Brüsseler Kompromiß beim Schutz vor BSE zeigt: Demokratie ist bei der EU noch immer ein Fremdwort
: Entmachtet die Agrarminister!

Jede Reform der EU hat nur Sinn, wenn sie mit der Entmachtung der Landwirtschaftsminister beginnt. Wer einen Beleg dafür braucht: Die Agrarminister haben gerade wieder ein Lehrbeispiel geliefert, wie es 40 Jahre nach den Römischen Verträgen um Demokratie und Verbraucherschutz in der EU bestellt ist. Nur um das Europäische Parlament draußen zu halten, haben sie sich bei der Kennzeichnungspflicht für Rindfleisch auf einen Kompromiß geeinigt, der dem Verbraucherschutz im Binnenmarkt Hohn spricht.

Dieses Beispiel ist besonders aufschlußreich, weil es nicht nur die Dreistigkeit belegt, mit der das Europaparlament ausmanövriert wurde, sondern auch die Uneinsichtigkeit der Agrarminister, daß Qualität und Kennzeichnung der Lebensmittel nicht nur die Bauern etwas angeht. Ab dem Jahr 2000 muß danach auf allen Fleischprodukten vermerkt sein, wo das Tier geboren, gemästet und geschlachtet wurde. Das ist nicht nur reichlich spät, die Agrarminister haben auch noch einige Ausnahmen eingebaut, weil der britische und der italienische Minister ihre Verbraucher lieber dumm halten wollen.

Doch wenn den anderen 13 Ministern die vollständige Kennzeichnung so wichtig gewesen wäre, wie Bundesbauernminister Jochen Borchert behauptet, dann hätten sie die italienischen und britischen Einwände locker überstimmen können. Aber dann hätten sie das Europaparlament an der Entscheidung beteiligen müssen, und da geht es ans Eingemachte.

Denn die Abgeordneten hatten längst signalisiert, daß sie die Kennzeichnungspflicht mittragen würden und an einer schnellen Umsetzung interessiert seien. Auch die EU-Kommission, die unter dem Druck der Öffentlichkeit die Lehren aus der BSE-Krise gezogen hat, legte bei ihrem Gesetzesentwurf die Beteiligung der Abgeordneten zugrunde: Lebensmittelkennzeichnung falle unter Gesundheits- und Verbraucherschutz, argumentierte die EU- Kommission, und da hat das Europaparlament laut Maastrichter Vertrag ein Mitspracherecht. Doch die Minister, die über diesen Entwurf zu entscheiden hatten, wollten ein Exempel statuieren: Was mit Fleisch zu tun hat, sei Agrarsache, das gehe die Abgeordneten nichts an. Zwar mußten die Minister dann einstimmig beschließen, aber bevor sie auch nur ein Zipfelchen ihre Macht aus den Händen geben, streiten sie lieber monatelang um Nebensächlichkeiten und einigen sich dann auf windigste Kompromisse. Hauptsache, das Parlament hat nichts zu sagen.

Hinter dem Coup steckt ein übles Kalkül: Die Agrarpolitik, das Kernstück der Europäischen Union, ist traditionell ziemlich demokratiefern organisiert – und nach dem Willen der Landwirtschaftsminister soll sie das auch bleiben. Das ganze System stammt noch aus den Zeiten, als es das Europäische Parlament noch gar nicht gab. Vor vierzig Jahren schrieben die sechs Regierungen der Gründungsmitglieder in die Römischen Verträge, daß sie die damals noch beachtlichen Probleme bei der Ernährungssicherung gemeinsam lösen wollten. Bereits in den sechziger Jahren wurden alle wichtigen Agrarentscheidungen nach Brüssel verlagert – ohne parlamentarische Kontrolle.

Die nationalen Parlamente haben auf die hyperkomplizierte EU- Agrarpolitik schon lange keinen Einfluß mehr, und das Europaparlament hat noch immer keinen. Während in anderen Bereichen der EU das Straßburger Parlament schrittweise in die Entscheidungen einbezogen wurde, ist die Agrarpolitik nach wie vor allein Sache der Landwirtschaftsminister. Wenn sie aus ihren Hauptstädten nach Brüssel reisen, verwandeln sich die Minister in Gesetzgeber. Aus der exekutiven wird die legislative Gewalt, ohne daß irgendein Wähler dem zugestimmt hätte. Dieser vordemokratische Zustand hat bisher alle EU-Reformen überlebt und den Landwirtschaftsministern den Aufbau eines Systems ermöglicht, das ausschließlich ihre Klientel bedient: die Bauern, vor allem aber die Agrarindustrie. Weit mehr als die Hälfte des EU-Budgets fließt in die Landwirtschaft. Für den Rest der Bevölkerung fühlen sich die Agrarminister nicht zuständig. Schlimmer noch: Sie bestreiten, daß es die übrige Bevölkerung etwas angeht, was sie zum Schutze ihrer Klientel beschließen.

Auch die Kennzeichnungsvorschrift hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun. Dann dürfte es nämlich keine Ausnahmen geben. Sie soll lediglich die besonders sensiblen Verbraucher, etwa in Deutschland und Holland, beruhigen, um den angeschlagenen Rindfleischmarkt zu retten. In Großbritannien und Italien dagegen fürchten die Landwirtschaftsminister, daß die Fleischkonsumenten noch zurückhaltender werden könnten, wenn sie über die Herkunft des Fleisches Bescheid wüßten. Italien importiert viele Rinder aus Polen, und „british beef“ ist auch in Großbritannien nicht unbedingt eine Werbung. Mit anderen Worten: Kennzeichnung nur dort, wo es der Fleischindustrie nützt.

So war die Brüskierung des Europaparlaments kein Zufall, sondern eine bewußte Machtdemonstration. Vor zwei Monaten hat das Parlament die EU-Kommission darauf festgenagelt, den Verbraucherschutz zu Lasten der Agrarpolitik aufzuwerten. Die Abgeordneten drohen damit, die Kommission Ende des Jahres zu stürzen, wenn sie aus dem BSE-Desaster keine Lehren zieht. Unter diesem Druck hat EU-Kommissionspräsident Jacques Santer versprochen, die Lebensmittelkontrolle aus der Agrardirektion in die Verbraucherabteilung zu verlegen. Santer sorgt sich um das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in die EU. Das Versagen seiner Behörde bei der Bewältigung der BSE- Krise hat bereits genug Schaden angerichtet.

Die Kennzeichungspflicht für Rindfleisch war der erste Versuch der EU-Kommission, dem EU- Parlament Zugang zur bisher so abgeschotteten Agrarpolitik zu verschaffen. Und genau das wollten sich die Landwirtschaftsminister nicht bieten lassen. Doch ihre Sturheit hat nur deutlich gemacht, wie überfällig die Demokratisierung der EU ist. Im Juni soll der Maastrichter Vertrag generalüberholt werden. Das Europaparlament fordert das Recht auf umfassende Mitentscheidung, auch und gerade in der Landwirtschaftspolitik. Doch das letzte Wort haben die Chefs der 15 Mitgliedsregierungen, und es ist nicht schwer, zu erraten, was ihnen ihre Agrarminister einflüstern. Helmut Kohl und seine europäischen Freunde werden sich entscheiden müssen, ob sie ein Europa der Bürger oder weiterhin ein Europa der Bauern wollen. Alois Berger