Berliner Jüdische Gemeinde wird bunt

Monatelang machte sie negative Schlagzeilen. Damit soll Schluß sein. Am 1. Juni wählen 10.500 Juden ein neues Parlament. Erstmals kandidieren viele Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Jeder Abraham hat sein Programm, wird neuerdings in der Berliner Jüdischen Gemeinde gespottet. Liebevoll, die Schwarzseher reden anders. Sie sehen den „GAU heraufziehen“, befürchten die Spaltung, so kürzlich Rabbiner Stein in der Berliner Zeitung, malen Chaos und Anarchie an die Wand. Was andere wiederum für blanken Unsinn halten, denn endlich entstehe pluralistisches jüdisches Leben. Kurzum: In der größten Jüdischen Gemeinde von Deutschland geht es derzeit sehr lebendig zu.

Grund der Aufregung sind die Wahlen zum Gemeindeparlament am 1. Juni. Die etwa 10.500 Berliner Juden sind aufgerufen, 21 Repräsentanten zu wählen, die aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden bestimmen müssen. Alles wird diesmal anders. Denn zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte treten keine konkurrierenden Blöcke mit Spitzenkandidaten an, sondern es gibt eine Persönlichkeitswahl.

Am Montag war Bewerbungsschluß. Etwa 65 Kandidaten stehen für die 21 Mandate bereit, und eines ist sicher: Das nächste Parlament wird das bunteste sein, daß es je in der Stadt gegeben hat.

In den Startlöchern warten Intellektuelle wie Andreas Nachama, Julius Schoeps, Herman Simon – Persönlichkeiten, die wegen ihrer wissenschaftlichen oder musealen Arbeit weit über Berlin hinaus bekannt sind. Es kandidieren jüdische Feministinnen wie Eliza Klaphek, die für gleichberechtigte Gottesdienste sind, und es kandieren mindestens 30 Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, die „Wohltaten“ satt haben und für „Gleichberechtigung“ streiten.

Von der alten Garde des Liberal-Jüdischen Blocks (LJB), die seit Jahrzehnten das Heft fest in der Hand hatte, ist fast niemand mehr dabei. Nachdem ihr Favorit, der Frankfurter Anwalt Michel Friedmann, angeblich aus privaten Gründen vor kurzem abwinkte, kann sie auch keinen potentiellen Vorstandsvorsitzenden mehr anbieten. Die Wahrheit vielmehr ist, daß Friedmann keine Lust hatte, sich in der Berliner Schlangengrube zerfleischen zu lassen. Die Liste ist zerfallen, sie ist nach dem bösen Streit über unkoschere Grundstücksgeschäfte einer LJB- Repräsentantin ins moralische Abseits geraten. Dem bis zum 1. Juni noch amtierenden Vorsitzenden Jerzy Kanal gelang es nicht, die Gemeinde zusammenzuhalten. Eine neue Integrationsfigur ist nicht in Sicht. Selbst Maria Brauner, die 24 Jahre lang Sozialdezernentin war, ist jetzt dem LJB davongelaufen. „Sozial wirken“, sagt die Frau des einflußreichen Filmproduzenten Arthur Brauner, „kann ich auch ohne Amt.“

Den Scherbenhaufen, den Kanal im Gemeindebüro hinterläßt, möchte Moische Waks von der früheren LJB-Konkurrenz, der Demokratischen Liste (DL), zusammenkehren. Er will Vorsitzender werden. Ob es ihm gelingt, ist fraglich. Auch die DL hat in den Streitigkeiten um Moral und Grundstücksgeschäfte Federn gelassen. Viele Gemeindemitglieder sehen in den Auseinandersetzungen zwischen LJB und DL nur einen Krach zwischen konkurrierenden Immobilienhändlern und auf Restitutionsgeschäfte spezialisierten Anwälten. In beiden Listen waren sie stark vertreten.

Das Hauptinteresse gilt also den unbekannten Kandidaten und der Frage, wohin steuern sie die Gemeinde? Die Gerüchteküche kocht, viele haben Angst, vor allem vor den „Russen“. Denn die kürzlich von Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, geäußerte Ansicht, daß die Interessen der Zuwanderer von Streitparteien in den Gemeinden „instrumentalisiert“ werden und daß deshalb Gemeindespaltungen nicht auszuschließen seien, widerlegen in Berlin die Zuwanderer selber. Nie zuvor waren so viele bereit, sich aktiv in die Gemeindearbeit einzumischen. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, daß die etwa 5.000 bis 6.000 Juden, die aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammen, nur „eigene“ Kandidaten wählen. Zumal die meisten der etwa 30, die sich wählen lassen wollen, nicht kürzlich, sondern bereits in den 70er Jahren nach Berlin gekommen und „integriert“ sind.

Ganz gezielt wird die große Gruppe der Neuzuwanderer nur von dem eben gegründeten Bündnis „Stimme der schweigenden Mehrheit“ angesprochen. Elf „russische“ Kandidaten, der pominenteste ist der Journalist Arkadi Schneiderman, und der deutsche Kandidat, Rechtsanwalt Albert Meyer, treten für sie an. Beide haben beste Aussichten, gewählt zu werden. An den zukünftigen Vorsitzenden, der nicht aus ihren Reihen kommen soll, stellen sie 16 „Forderungen“. Ihre wichtigste: Die Zuwanderer sollen nicht weiter als „fremde Elemente behandelt bzw. als Ballast angesehen werden“, sondern als eine „Bereicherung für die Gemeinde“. In diesem Punkt haben sie schon einen Bündnispartner. Julius Schoeps: „In spätestens einer Generation wird es ein neues deutsches Judentum geben, gespeist aus russischer Herkunft.“ Zumindest Schoeps hält dies für einen Gewinn.