Eine Protestchronik

■ Ernst Kahls pädagogische Ohrfeigen, gesammelt in „Kahls Künste“

Was ist bloß aus unserer schönen Protestgesellschaft geworden? Arbeiter streiken für ihre Konzernchefs, Berufsökologen fliegen Flugzeug wie bekloppt und essen Thunfisch, und die Freie Liebe wird nur noch in den Pornofilmen auf Premiere diskutiert. Hat sich die Opposition denn wirklich vollständig in die nächtlichen Träume zurückgezogen?

Nein, denn es gibt ja noch Ernst Kahl. Seine grandiose Aktion zur letzten documenta „Pflanzen fasten für den Erhalt des Tropischen Regenwaldes“, bei der er in einer Kasseler Galerie eine Armee Topfpflanzen vergammeln ließ, war die letzte Innovation im Sektor „Neue Protestformen“seit Fritz Teufels Tintenpistolen-Attentat. Dieser befreiende Fluch im linken Jargon hat unseres Wissens keinen Baum in Südamerika gerettet, aber er hat wenigstens die dämliche Berechenbarkeit linker Berufskritik kolportiert.

Kahls Künste, so der Titel des neuen Bildbandes des Exil-Plöners, schaffen ihre eigene Protestkultur. Zum Beispiel protestiert Kahl gegen die Überlegenheit der Schlange über das Kaninchen oder die historische Dummheit, die zu denken verbietet, daß Jesus Lenin seine Wundmale hätte zeigen können. Und warum sollte man nicht morgens aufstehen und eine lächelnde Froschfamilie in seinem Waschbecken vorfinden können, die „Guten Morgen“quakt? In vollem Ernst: Hier ist Protest nötig.

Und Ernst Kahl weiß ihn zu äußern. Seit er als 16jähriger die 30-Mark-Entscheidung zwischen einer neuen Cordhose und dem Leben als Bohémien in einer bohèmelosen Zeit mit der Flucht von zuhause getroffen hatte, lebt er in ununterbrochener Umarmung mit dem Witz. Transportprobleme kennt er nicht: Sei es als Drehbuchschreiber für Werner oder Bucks Wir können auch anders, sei es mit Hardy Kayser als singender Versschmied oder als Erfinder von so wichtigen Dingen wie der „Tortenschlacht“, der Drang zur pädagogischen Ohrfeige bahnt sich durch jedes Medium rempelnd seinen Weg.

Dabei bleibt er trotz der einschlägigen Karriere als Pardon- und Titanic-Unterhalter stilistisch autonom und bizarr vielfältig. Schließlich braucht es schon einiger Selbstgewißheit, um Werner, Fickgeschichten aus der katholischen Kirche, beißende Tiergemälde, putzige Landschaftsaquarelle, Lebensweisheiten in Liedform und das Hut-ziehen vor großen Künstlern in ein Sein zu sortieren.

Bei all den kleinen Grausamkeiten ist Kahls Verhältnis zur Welt herzlich und genährt von der Portion Naivität, die man unterhalb von Karl Kraus braucht, um nicht dem Zynismus anheim zu fallen. Das hier abgebildete Gemälde von dem armen Piloten, der in den Suppenteller eines Mona-Lisa-Pneus gestürzt ist, ist vollgetankt mit dem typischen Ernst-Kahl-Charme. Seine Katastrophen spielen in der Sinnesfülle und kennen keine Tränen. Das ist politische Basisarbeit – eine Protestchronik Deutschlands ohne Kohl, Staat und Polizei.

Till Briegleb

Ernst Kahl: Kahls Künste; 222 Seiten, ca. 300 Abb., Rogner & Bernhard, 59 Mark