Unfall des Chlorzugs: Handeln erst nach Protest

■ In Schönebeck fühlen sich die Betroffenen von den Behörden allein gelassen

Magdeburg (taz) – Fünfzig Meter vor der Haustür von Familie Stage entgleisten die Waggons. Zu dem Unglückszug gehörten 18 Kesselwagen mit Vinylchlorid, einem farblosen, krebserregenden und Erbschäden auslösenden Gas. Ein Waggon explodierte, fünf fingen Feuer.

Das alles passierte am 1. Juni vergangenen Jahres in Schönebeck, einer 40.000-Einwohner- Stadt bei Magdeburg. Später wurde das restliche Vinylchlorid auf „die denkbar billigste Weise entsorgt, nämlich abgefackelt“, sagt Brigitte Stage, die inzwischen Sprecherin der Bürgerinitiative Vinylchlorid ist. Die Dämpfe seien vier Wochen lang über die Grundstücke der Anwohner hinweggezogen. Doch auch neun Monate nach dem Unglück ist nicht viel passiert, um den Betroffenen zu helfen. In der vergangenen Woche nun legte das Gesundheitsministerium Sachsen-Anhalt eine „Gentoxikologische Studie“ vor: mögliche gesundheitliche Auswirkungen für 29 Anwohner wurden darin analysiert. Ergebnis: Bei mehreren Untersuchten fand sich im Vergleich zu einer unbelasteten Kontrollgruppe eine größere Anzahl von Chromosomenveränderungen in bestimmten Blutzellen, wie die Projektleiterin der Studie, Edith Hüttner vom Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung Gatersleben, erklärte. Bei den Anwohnern des Katastrophenortes lag der Anteil erbgutgeschädigter Zellen bei 1,47 Prozent, bei der Kontrollgruppe bei 1,07 Prozent.

Die Wissenschaftler sehen in den Abweichungen in der Zellstruktur durchaus einen Zusammenhang mit dem Vinylchlorid. Solche Veränderungen könnten aber auch durch Einflüsse wie chronische Krankheiten, Rauchen und Alkohol auftreten. „Die erzielten gentoxikologischen Befunde weisen auf erhöhte Krebsrisiken hin“, heißt es im Abschlußbericht. Eine Risikoabschätzung für einzelne Personen und individuelle Krebsrisiken sei jedoch nicht möglich. Das Land wird eine Folgestudie in Auftrag geben, die auch untersuchen soll, ob sich der Organismus der Betroffenen auf natürliche Weise regeneriert.

Für Brigitte Stage ein schwacher Trost. Ihrer Ansicht nach wurden die Anwohner zunächst verantwortungslos dem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Die Bürgerinitiative hat wegen unterlassener Hilfeleistung Strafanzeige gegen Landrat Klaus Jeziorsky (CDU) gestellt. „Wir wurden nicht evakuiert, unser Grundwasser ist bis heute verseucht. Erst nach beharrlichem Drängen, im November, wurden in unserem Haus Analyseproben entnommen. Daraufhin mußte die gesamte Einrichtung entsorgt werden“, so Brigitte Stage. Detlef Krell