Schlupflöcher im Weltall

■ Alles fließt in „hundert Ansichten der Speicherstadt“von Martin tom Dieck. Ein dunkles, Bilderbuch für weit aufstehende Herzen

In Martin tom Diecks Kosmos ist der Mensch klein und allein mit dem Wasser. Wie den Bayern der Watzmann ruft, so lockt Diecks ängstlich dreinblickendes Menschwesen das flüssige Element. Sei es der namenlose Ozean um einen von merkwürdigen Gestalten bevölkerten Dampfer, wie in seinem letzten Bilderbuch Der unglaubliche Passagier, oder das gierige Opfer von Gezeiten, Sturm und Platzregen in der Speicherstadt – das Wasser ist Diecks Heimat der Seele. Ein Spiegelbild der Gefühlswelten seiner schmächtigen Kleinheiten, die hier diffuse Abenteuer erleben.

In hundert Ansichten der Speicherstadt, dem dieser Tage erschienenen neuen Buch, folgt ein Knabe stumm seiner Neugier durch eine labyrinthische, seine Dimensionen stetig wandelnde Lagerstadt. Ein großer Unbekannter, der auf einem Kriegsdampfer mit zwei trommelnden Pandabären im Schlepptau in die Fleete einfährt und in dem System aus Speicherböden und Kanälen nach mysteriösen Zeichen Ausschau hält, kreuzt den Weg des kleinen Kanuten.

Keine Sprechblase stört die magnetische Korrespondenz der zwei Vagabunden durch das menschenleere Türmen von Baukörpern, Schriften, Bündeln und Flüssigkeiten. Kein faßbarer Sinn macht sich auf, die grandiose Magie der schwarz-weißen Beobachtungen zu zerstören. Ohne Herkunft und ohne Glauben, nur einem archaischen Interesse folgend, sucht der Kleine den Kontakt des Großen.

Dieck, dessen eigentümlichen Stil taz hamburg-Lesern durch die Zeichnungen zu Konzertberichten kennen, duldet in den flüchtigen Beziehungen zwischen seinen Wesen keine Sympathie. Mit oft wenigen Strichen entwirft er scheinbare Einheiten, die aber doch nur Schlupflöcher in ein Weltall des Unwissens sind. Das einzige, was alle Erfindungen von Dieck vereint, ist eine stille Form der Melancholie, ein „Alles fließt“, dem sich entgegenzustellen nicht einmal der Versuch unternommen wird. Ist das vielleicht das schöne Unterfangen, einer uralten Empfinden von „Schicksal“ein Kunstwerk zu stiften?

Einige der Zeichnungen werden ab morgen abend in der Galerie handlung ausgestellt, wo auch eine Buchpräsentation stattfindet. Es wird sich reden – feierlicher und profaner Art – zwar wohl nicht vermeiden lassen, aber eigentlich sollte der zu erwartende Menschensee schweigen. Das wäre die passende Würdigung für dieses dunkle Werk, das jeder kaufen muß, der gerne manchmal und alleine sein Fenster zum Herzen offen stehen läßt.

Till Briegleb Martin tom Dieck: hundert Ansichten der Speicherstadt; Edition Nautilus/Arrache Coer, 39,80 Mark Ausstellung: morgen, 4. April, handlung, Admiralitätstr. 76, Di-Sa, 16-20 Uhr, bis 12. April