Neue Etappe bei der Hatz gegen Arme

Unionspolitiker schüren Neid auf Sozialhilfeempfänger und wollen es jetzt doch nicht so gemeint haben. Ideologische Angriffe gegen arme große Familien und alleinerziehende Frauen  ■ Von Annette Rogalla

Berlin (taz) – Die Osterbotschaft, die Michael Glos, Landesgruppenchef der CSU, an das Wahlvolk sandte, klingt nach. „Mißbräuchlicher Inanspruchnahme von Sozialhilfe muß schärfer zu Leibe gerückt werden“, meinte er. Der Gedanke fand Anhänger. Julius Louven, Sozialpolitiker der CDU, legte flugs nach und forderte Gesetzesverschärfungen, um Sozialhilfeempfänger zur Arbeit nötigen zu können. Gut ein Drittel von ihnen könnte arbeiten. „Da muß man ansetzen“, meinte der CDU-Mann.

Wie verabredet schrieb Wolfgang Schäuble, Vorsitzender der Unionsfraktion, seinen Bundestagskollegen, Sozialhilfe habe eine Reform nötig. „Die Reform der Sozialhilfe ist notwendig, weil anders das Lohnabstandsgebot nicht zu verwirklichen ist.“ Anders sei „auch das Problem nicht zu lösen, daß bei zu hoher Arbeitslosigkeit zahlreiche Arbeitsplätze auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zu besetzen sind“, so Schäuble. Die Steilvorlage griff Wolfgang Zöller, CSU-Sozialexperte, dankbar auf: Man könne über eine Kürzung der Regelsätze für Kinder nachdenken, sagte er. Schrille Töne, die auf eine Bereitschaft in der Union schließen lassen, das System der Sozialhilfe zu demontieren.

Die Sozialhilfe wird gezahlt, wenn das eigene Einkommen nicht mehr ausreicht, ein Leben zu führen, „das der Würde des Menschen entspricht“. Am 1. Juli 1962 wurde dieser Rechtsanspruch eingeführt. Der Haushaltsposten belastet die Gemeinden gewaltig: 1995 wurden insgesamt 52,1 Milliarden Mark nach dem Bundessozialhilfegesetz ausgegeben, am Ende des Jahres erhielten 2,52 Millionen Menschen Sozialhilfe, 9,1 Prozent mehr als 1994 – ein rapider Anstieg. „Unzumutbare“ Belastungen, meint Seehofer.

Die klassische Sozialhilfe, die „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“ und die „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ machen allerdings nur 18,8 Milliarden Mark aus. Die Hilfe für Pflegebedürftige und die Eingliederung für Behinderte kosten 33,3 Milliarden Mark.

Die Statistik für 1994 zählt 870.000 Kinder und Jugendliche, die geringere Sätze als der sogenannte Haushaltsvorstand erhalten. An diese Regelsätze wollte Zöller heran.

Eine „zynische und kopflose Art von Tagespolitik“ kommentiert der Deutsche Caritasverband das Geschrei der Scharfmacher. Nach herber Kritik, auch aus den eigenen Reihen, zogen die ersten gestern bereits vorsichtig die Köpfe ein. Zöller fühlt sich plötzlich mißverstanden. „Ich will gar keine Kürzung der Regelsätze“, sagte er im taz-Gespräch. Vielmehr denke er daran, die Regelsätze „für ein, zwei Jahre einzufrieren“. Ihm gehe es darum, „Rationalisierungsreserven im Sozialsystem auszuloten“. Auch CDU-Sozialexperte Julius Louven befleißigt sich, eilig klarzustellen, er strebe keine Absenkung der Sozialhilfe an.

Alles heiße Luft also? Mitnichten. Zöller will „eine psychologische Debatte“ entfachen. Ihm seien „Fälle bekannt, wo eine fünfköpfige Familie mehr an Sozialhilfe bekommt, als eine Arbeiterfamilie an Einkommen.“ Wie groß der Unterschied ist, weiß er nicht genau: „Dreißig, vierzig Mark vielleicht.“ Daß das Beispiel unrealistisch ist, läßt sich allerdings aus Zahlen des Seehofer-Ministeriums ersehen. Laut Lohnstatistik hat eine Hilfsarbeiterfamilie mit drei Kindern inklusive Weihnachts-, Urlaubs-, Kinder- und Wohngeld ein monatliches Haushaltseinkommen von 3.848 Mark zur Verfügung. Hingegen muß sich eine fünfköpfige Familie, die von der Sozialhilfe lebt, mit 3.311 Mark begnügen. Der Abstand zu den niedrigen Lohngruppen liegt somit bei rund 14 Prozent; ein Punkt unter dem, was im Streit um die Sozialhilfereform des vergangenen Jahres die Christdemokraten gefordert hatte.

Im heimatlichen Wahlkreis Obernburg höre er immer wieder, Sozialhilfeempfänger seien arbeitsscheu, berichtet dagegen Zöller. „Und ich muß mich dann fragen lassen: Warum unternehmt ihr nichts?“ Zöller hat daher eine weitere Zielgruppe im Visier: alleinerziehende Frauen. Über die weiß er, daß sie häufig mit ihrem Lebenspartner, dem Kindesvater, zusammen wohnen, dies aber beim Sozialamt nicht angäben, um von ihrer Sozialhilfe nichts zu verlieren. „Es ist nicht recht, daß sie den Staat so schröpfen können.“

Kritiker der Sozialhilfe fordern, in Fällen von Wohngemeinschaften die Beweislast umzukehren: Bezieht einer in der Wohnung Sozialhilfe, muß er nachweisen, daß er nicht vom Mitbewohner unterstützt wird.

Louven argumentiert ferner, 35 Prozent aller Sozialhilfeempfänger seien eigentlich arbeitsfähig. Sie müßten nur Jobs finden – und zwar die, die von Ausländern aus Nicht- EU-Staaten besetzt werden. Louvens Anliegen sind die Saisonarbeiter aus Polen und Bosnien. Diese 280.000 will er hier nicht mehr sehen, viel lieber würde er Sozialhilfeempfänger in die Erdbeerfelder schicken.

Bei solchen Gedanken klingeln Andrea Fischer, sozialpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, die Ohren. Die derzeitige Sozialhilfedebatte wertet sie als „eine Mischung aus ideologischem Angriff und tiefer Unkenntnis“.

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