: Disziplinierter Freigeist
■ Der Berliner Soziologe Dietrich Claessens ist tot
Der gute Ruf, den die Soziologie an der Freien Universität in den sechziger und siebziger Jahren genoß, verdankte sich Dieter Claessens, einem Soziologen, den zeitlebens die Paradoxie gesellschaftlicher Institutionen beschäftigt hat. Daß Familien beispielsweise nicht nur Zwang ausüben, sondern auch zu größerer Freiheit schulen, hat er schon 1962 beschrieben. Der 1921 geborene Offizierssohn war schon in den fünfziger Jahren maßgeblich an industrie-, jugend- und organisationssoziologischen Feldstudien beteiligt, durch die die Soziologie überhaupt erstmals eine Eigenständigkeit erreichte. Claessens hat Norbert Elias für Deutschland wiederentdeckt („das lesen wir jetzt!“), als der noch Gastprofessor in England war, und war der Doktorvater von Niklas Luhmann. Nach einigen Jahren als Ordinarius in Münster kam er pünktlich, 1967, zur Studentenbewegung, den Teach-ins und Institutsbesetzungen nach Berlin zurück. Er selbst übernachtete währenddessen im Soziologischen Institut und öffnete den Besetzern die Tür.
Ebenso untypisch für den klassischen Ordinarius war die Tatsache, daß er wenige Jahre später der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik – sonst gern als zweite Wahl neben der Universität gehandelt – aus ihrer Ratlosigkeit half, indem er für vier Jahre ihr Rektor wurde. Von seinem wissenschaftlichen Prestige profitiert die FHSS noch heute.
1979 erkrankte Claessens schwer und wurde bald darauf vorzeitig emeritiert. Als sei er entschlossen, sich nicht noch einmal, nach Krieg und russischer Gefangenschaft von 1940 bis 1949, durch Krankheit und Alter viele Jahre nehmen zu lassen, hat er seither mit disziplinierter Lebenslust, die alle medizinischen Prognosen und fürsorglichen Schonungsratschläge beschämt hat, weitergearbeitet, publiziert und Vorträge gehalten, ist in Deutschland und Europa gereist und durch Berlin gewandert. Sein Lebtag blieb er disziplinierter Freigeist von nüchterner Lebenslust, Leitbild ohne Gefolgschaft – und Berliner von Lessingscher „Helligkeit“, auf einer Wolke mit Fontane und Friedrich Luft.
Von Claessens stammt das Wort von der „soziologischen Anthropologie“. Die Titel einiger seiner Bücher fallen heute, im Ozean soziologischer Literatur, womöglich mehr ins Auge als bei ihrem Erscheinen: „Familie und Wertsystem“ (1962), „Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland“ (1965), „Instinkt, Psyche, Geltung“ (1967) oder auch „Kapitalismus als Kultur“ – ein Titel, der 1973 noch ein linkes Tabu berührte; bis hin zu seinem Hauptwerk „Das Konkrete und das Abstrakte“ (1980). Demnächst erscheint „Konkrete Soziologie. Eine verständliche Einführung in soziologisches Denken“.
Dieter Claessens ist am Ostersonntag im Alter von 75 Jahren gestorben. Hermann Pfütze
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