Knäste zu Discos

■ Bpm-süchtiger Technojünger trifft Foucault-Fan: In Rummelsburg tobt sich heute für eine Nacht die Szene aus

Sag „uff!“ mit dem alten Häuptling der Indianer: Erst wenn im letzten Obst-und-Gemüse-Laden Beck's und Milchkaffee über den Tresen gehen, wenn in der letzten Metzgerei die Schinken in Öl gewickelt werden, wenn der letzte Friseur zur Disco umfrisiert ist, wird man feststellen, daß man Szene nicht essen kann. Doch wenn ein historisch belastetes Gemäuer wie das ehemalige Gefängnis Berlin-Rummelsburg zum Ort des Spektakels wird, lohnt sich ein neugieriger Blick durchaus.

Denn die Geschichte der Backsteinbauten legt eine Veranstaltung mit dem Titel „Easy Jaily“ nicht gerade nahe. 1874 wurde der Komplex als preußisches Arbeitshaus gegründet und diente der Kasernierung von obdachlosen Familien, Prostituierten und psychisch Kranken. Die Nationalsozialisten untersuchten dort, ob sich an den Insassen verbindliche Kriterien für „Asozialität“ festmachen ließen, und in der DDR wurden auf dem Gelände Fluchthelfer und Republikflüchtlinge interniert. Daß also die Organisatoren Martin Kleppel und Markus Liske, die „einen Schulterschluß mit den ehedem hier Inhaftierten und die Verteidigung ihrer Würde gegen die erneute Welle der Hauptstadtbereinigung“ herbeischwadronieren, von indiskutabler Überheblichkeit sind, versteht sich fast von selbst – freiwillige Dissidenz ist mit existentieller Bedrohung wohl kaum vergleichbar.

Doch das Reflexionsniveau der vierzig beteiligten KünstlerInnen ist so unterschiedlich wie ihre Mittel und die Intensität ihrer Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart der Institution Gefängnis. Freundlicher formuliert, wird der bpm-süchtige Technojünger mit einem Set von Mick Aragon und drei weiteren DJs ebenso rundumversorgt wie die umtriebige Laufkundschaft von Foucault, Mike Davis und Fritz Lang, denen das Homer Projekt feat. MMM unter dem Titel „Metropolis Adieu“ eine Geisterbahnfahrt über den Potsdamer Platz gewidmet hat. Aber Vorsicht: „Das Publikum soll und will bestraft werden.“ Dazu werden Distorted Killer Noise Rock von Soon Li aus Kreuzberg und Jailhouse Rock von Splatter Kakapo gereicht, die mit zwei Gitarren, einem Harmonium und einem Roland 808 antreten.

Nur eine Gitarre, aber dafür reichlich Gedichte haben hingegen zwei unter dem Namen Francis Elben arbeitende Oldenburger Improvisateure mitgebracht. Heine, Novalis, Benn, Poe und Grünbein dekonstruieren sie mit Feedbackbegleitung – und obwohl sie ihren Landsmann Rolf Dieter Brinkmann weder im Gepäck noch im Regal haben und ihre Sekundärrohstoffverwertung nicht zwingend ins Konzept paßt, ist ihre Darbietung wohl der ebenfalls gitarrenunterstützten Performance des Wiesbadener Social-Beat-Literaten, Taxifahrers und Kleinverlegers Alexander Pfeiffer vorzuziehen. Der nämlich liest aus seinem Gedichtband „Stacheldrahtherz“ und erzählt von selbsterrichteten Gefängnissen und gescheiterten Ausbruchsversuchen in „knallhartem Realismus und Momentaufnamen der Lebenswut, die immer wieder an die Grenzen des Daseins führen“. Interessanter dürfte da die Lesung der Dirty Girls werden, die Auszüge aus „Eros im Zuchthaus“ vortragen, einem Buch, das als eines der ersten der Bücherverbrennung zum Opfer fiel.

Und was macht die Kunst? Sie installiert, was das Zeug hält, erleuchtet Glühbirnen, ver- und enthüllt Bilder, fälscht Filmplakate, sammelt Fußabdrücke, arrangiert Schwarzweißfotos und läßt Waschmaschinen monologisieren. Doch nachdem unlängst in Mitte ein ganzes Reisebüro in eine Galerie verlegt wurde, könnte es sich dabei inzwischen auch um eine Außenstelle der documenta handeln. Gunnar Lützow

„Easy Jaily“, heute ab 18.30 Uhr im ehemaligen Gefängnis Rummelsburg, Straßenbahnlinie 21, Haltestelle Krosanke-Siedlung