Familie und andere Katastrophen

■ Deuschlandpremiere: Christoph Roetel inszeniert „Rückzug“

Mehrere Whiskys trinken, mit Kopfhörern Musik hören und durchs Fenster in die blaue Nachtlandschaft von Wales blicken – so wäre normalerweise der Abend von Harold verlaufen. Doch in seine scheinbare Idylle bricht Hannah ein.

Hannah besteht darauf, in Harolds Haus zu wohnen. Trotzig steht sie in verschmutzten Klamotten mit einer riesigen Reisetasche in Harolds Wohnzimmer. Sie kommt gerade von einem Indientrip zurück. Eine Reise, um den tödlichen Unfall ihrer Eltern zu verdrängen. Jetzt fordert sie beim Familienfreund Harold einen altes Versprechen ein: Im Todesfall ihrer Eltern hatten sich Harold und seine Frau Sophie verpflichtet, für Adam und Hannah zu sorgen wie für eigene Kinder. Harold, der mit seiner gelähmten Tochter Debbie in einem abgeschiedenen Landhaus lebt, wehrt sich vehement gegen die alte Abmachung und die bohrenden Fragen von Hannah. Doch das Aufeinandertreffen der beiden führt zu katastrophalen Offenbarungen aus der Vergangenheit. Die Erinnerungen an Mord, Vergewaltigung, Inzest, Glaube und den Verlust geliebter Menschen umkreisen die beiden Akteure in einem immer schnelleren Tempo.

Figuren unerbittlich mit ihrer Vergangenheit konfrontieren, das ist das dramaturgische Mittel, mit dem der englische Autor James Saunders in seinen letzten Stücken arbeitet. In Rückzug, das 1995 in London uraufgeführt wurde, verlangt dieses dramaturgische Mittel von den Schauspielern alles. Und das zwei Stunden ohne Pause, nur unterbrochen von den nächtlichen Schreien der gelähmten Debbie (Morena Bartel) aus dem Hintergrund. Weinend, schreiend, trotzig stampfend, zitternd und flüsternd stellt Sabine Falkenberg realitätsnah Hannahs fragende und herausfordernde Haltung dar. Harolds Schwanken zwischen Mitleid und Ablehnung gegenüber Hannah und sein unsicheres Trostsuchen im permanenten Whiskytrinken wird meisterhaft von Friedhelm Ptok gespielt.

Eine Innenlebenskatastrophe jagt die andere. So hatte es der Stückeschreiber vorgesehen und so wurde es auch brillant umgesetzt.

Uschi Behrendt