Verlorener Alltag

■ In Frankfurt werden Fotos polnischer Juden vor und während der Schoa gezeigt

„Die in der Ausstellung präsentierten Fotos sind die letzten Erinnerungen an das, was im tragischsten Schauspiel, das die Geschichte je sah, vernichtet wurde. Die Bilder sind gleichsam eine Klage über eine verlorene Welt, die heute nur noch auf den alten Fotos wiederkehren kann.“ Die Sätze stammen von der Direktorin der Shalom Foundation in Warschau, Golda Tencer-Szurmiej. Sie stehen im Vorwort zum Katalog der Ausstellung „Und immer noch sehe ich ihre Gesichter...“ im Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt am Main. Den jüdischen Initiatoren geht es um eine konkrete, sichtbare Erinnerung an die Opfer des Holocaust, die immer noch allzuoft über Statistiken wahrgenommen werden. Statt dessen versucht man in Frankfurt, die Vielfältigkeit jüdischen Lebens in Polen vor und während der Schoa zu zeigen.

Nach einem Aufruf der Foundation aus dem Jahre 1994 an Überlebende in der ganzen Welt und an die polnische Bevölkerung, private Fotografien von jüdischem Leben aus der Zeit vor der Schoa und aus dem Warschauer Ghetto einzusenden, trafen dort rund 8.000 Fotos ein. Die Auswahl der Bilder, die 1995 erstmals in Warschau zu sehen waren, hat die Foundation selbst übernommen. Es sind Fotos darunter, die von später ermordeten polnischen Juden an Verwandte ins Ausland verschickt wurden; Fotos, die in Gefängnissen, auf Dachböden und in Kellern entdeckt wurden – aber auch heimlich aufgenommene Fotos, die die allgegenwärtige Demütigung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der polnischen Juden nach 1939 dokumentieren.

Die Aufnahmen, die vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht entstanden, sind von Alltag, Familienleben und sozialer Routine bestimmt. „Die Menschen auf den Fotos wußten noch nicht, daß ihre Wohnungen bald verwaist sein würden, daß die Straßen der Städte mit dem Schnee zerschnittener Federbetten bedeckt sein würden und die Weisheit der Bibel niemand würde retten können“, schreibt Golda Tencer-Szurmiej im Katalog. Neben Fotos sind auch Postkarten jüdischer Druckereien, Gedichte und Tagebücher zu sehen. Und ein Farbdia von „unschätzbarem Wert“: Es zeigt das brennende Warschauer Ghetto während des Aufstandes 1943. Klaus-Peter Klingelschmitt

Bis 15.6., Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt; Frankfurt/Main