Ohne Schaf und Korn

Allfrühjährliche Deichbeschau – mal mit, mal ohne Deich: „Wir stochern nirgendwo herum“  ■ Von Achim Fischer

Nix war's mit Schnappes. Frühjahrs-Deichbeschau 1997 – die Phantasie des Süddeutschen hatte eigentlich schon alles geklärt: Grüne Deiche unter blauem Himmel, jede Menge Schäfchen auf der Erde, allenfalls ein paar am Himmel, garniert mit Windstärke vier bis fünf, Nord-Nord-West. Und natürlich mürrische wie gutmütige alte Männer, mit Gummistiefeln und langen Mänteln, die Haut von Wind und Wetter gegerbt. Schweigend stapfen sie dahin, die Pulle Korn in der Tasche. Nur hin und wieder bleiben sie stehen, prüfen ihren Deich mit kritischem Blick, stochern mit einem langen Stecken in dem Wall herum, und trinken, wenn sich das Bauwerk als fest erweist, aus Freude einen Korn, und ist es brüchig, dann auch.

„Wir stochern nirgendwo herum“, stellt Michael Stohn klar. Ergo kann es auch keinen Schnappes geben. Stohn ist weder alt noch mürrisch, dafür Diplom-Ingenieur in der Fach- und Deichaufsicht des Hamburger Amts für Wasserwirtschaft. Und als solcher darf er die Frühjahrs-Deichbeschau längs der Süderelbe auch ohne Gummistiefel und langen Mantel leiten.

Die findet jedes Jahr im April statt, zum Ende der Sturmflut- oder Sperrperiode vom 1. September bis 15. April. In dieser Zeit werden die Deiche am ehesten gebraucht, die Baubehörden lassen sie deshalb so weit wie möglich in Ruhe. Die Deichbeschau im Frühling dient als umfassende Bestandsaufnahme. Stohn: „Wir gucken, wo es einen Bedarf über die ordentliche Unterhaltung hinaus gibt.“Letztere sichern die Bezirksämter mit täglichen Kontrollgängen. Jenseits der Ordnung inspizieren die Frühjahrsbeschauer noch einmal. Per Bus. Sonst würden sie vielleicht doch noch alt und mürrisch, bei 100 Kilometern Hauptdeichen.

„Hochwasserschutzanlage – Befahren nur mit deichrechtlicher Genehmigung“, steht auf einem Schild am Fuße des Deichs. Der Busfahrer, scheint's, hat eine und fährt über den Feldweg – pardon: Unterhaltungsweg – hinter dem Deich, man könnte auch sagen: wasserseitig, weiter. Augen rechts: der Neuenländer Hauptdeich, ohne Schafe. Augen links: sumpfiges, auenartiges Gelände, das Vorland. Es zählt an dieser Stelle zum Naturschutzgebiet Schweenssand. Tiefe Reifenspuren neben dem Fahrweg zeigen, daß es nicht nur Fischen und Vögeln gefällt. „Die Schäden durch den Wochenendverkehr oder durch Grillfeste nehmen zu“, sagt Stohn. „Wir werden wohl dazu kommen, daß wir die Wege verstärkt absperren müssen.“

Die Fahrspur wird zum Asphaltweg, einmal über den Deich und wieder Richtung Harburg zurück. Kurzer Stopp, ein Bedarf jenseits der ordentlichen Unterhaltung ist in Sicht: Der Bewirtschaftungsweg hat tiefe Risse, der Boden hat sich etwas gesetzt. „Alte Asphaltdecke abfräsen, neue auftragen.“Einstimmig beschlossen. Weiter Richtung Hafen Harburg. Und noch immer keine Schafe. Geschweige denn ein Klarer.

Deichbeschau ohne alles. Irgendwann, westlich der Hafenschleuse, fehlt auch noch der Deich.

Die Hälfte der Busbesatzung steigt aus, mitten im Gewerbegebiet mit Schmuddel-Atmosphäre. „Wir haben nicht nur grüne Deiche“, so Stohn. Sondern eine Hochwasserschutzanlage. „Im Moment stehen wir auch auf der Anlage.“Anlage? Ein angetäuschtes Straßenhügelchen, irgendwo zwischen Fabrikhallen, Bahndamm und wirr plazierten Mauern? Stohn: „Die Anlage ist sehr vielschichtig.“Spricht's und zeigt die durchgehende Linie: von der ersten Mauer bis zum Straßenhügel, über den Bahndamm zur nächsten Mauer.

Mehrere Schäden am Mauerwerk kommen ins Protokoll. Zwei Poller sind nicht abgeschlossen. Vorschlag eines Frühjahrsbeschauers: „Die Kollegen aus Harburg“bekommen eine dreitägige Fortbildung: Wie bediene ich ein Vorhängeschloß? Angenommen. Wieder rein in den Bus, die Deichkilometer warten. Und wieder kein Schnappes.