Rinder tot, Geld weg, Schulden bleiben

Verfassungsgericht lehnt Klage gegen LPG-Altschulden ab. Zehn Jahre nach der Einheit muß der Gesetzgeber allerdings neu über die Entschuldungsregelungen nachdenken  ■ Aus Karlsruhe Christian Rath

Viele Agrarbetriebe im Osten müssen weiter für die westdeutsche DG- Bank arbeiten. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Altschulden der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) scheiterte gestern in Karlsruhe. Der Erste Senat des Verfassungsgerichts verpflichtete jedoch Regierung und Parlament, die Schuldenentwicklung der LPG-Nachfolger demnächst zu überprüfen. Bei Bedarf soll zugunsten der Betriebe „nachgebessert“ werden.

Anlaß für den gestrigen Richterspruch bot eine Verfassungsbeschwerde der LPG Schlanstedt (bei Magdeburg). Die Milchproduzentin mit etwa 2.000 Rindern hatte kurz nach der Wende aufgegeben. Bei der Verteilung der Konkursmasse wollte Verwalter Hans-Ullrich Wolff jedoch die Altschulden aus DDR-Zeiten nicht mehr bedienen. Die DDR-Kredite seien nur Verrechnungsposten in der Planwirtschaft gewesen und deshalb mit der DDR untergegangen. Aufgekauft hatte die Schulden jedoch die westdeutsche DG- Bank, die auf das Geld natürlich nicht verzichten wollte.

Der Streit ging bis vor den Bundesgerichtshof (BGH), der letztlich der Bank recht gab. Da der Bundestag keine Schuldenstreichung beschlossen habe, seien Kredite aus DDR-Zeiten auch nicht erloschen, so der BGH. Dieses Urteil von 1993 wurde jetzt vom Verfassungsgericht als grundgesetzkonform bestätigt (1 BvR 48/94). Die Folge für die ehemalige LPG Schlanstedt beschreibt Konkursverwalter Wolff: „Die übrigen Gläubiger, also Lieferanten und Geschäftspartner, bekommen jetzt wohl nur einen minimalen Anteil aus der Konkursmasse. Und die ehemaligen LPG-Genossen erhalten für ihr einst eingebrachtes Inventar keinen Pfennig mehr.“

Das Karlsruher Urteil bestätigt die bisherige Altschuldenpolitik der Bundesregierung, gibt ihr aber Leitlinien für die Zukunft auf den Weg. So sei es zwar durchaus möglich gewesen, vom Fortbestand der Altschulden auszugehen. Sie seien nicht als „Ausdruck des besonderen Unrechtsgehalts der früheren Ordnung der DDR“ zu sehen. Eine gewisse Entlastung der LPG sei, so das Verfassungsgericht, jedoch notwendig gewesen, weil die systemfremden Schulden sonst die Lebensfähigkeit vieler Betriebe bedroht hätte. Der Staat habe zumindest den Teil der Schulden übernehmen müssen, der in den Aufbau örtlicher Infrastruktur (Straßen, Kinderkrippen und Wohnungen) geflossen sei.

Diesen Anforderungen ist nach Ansicht der Richter die bisherige Politik gerecht geworden. Von insgesamt 7,6 Milliarden Altschulden im Jahr 1990 wurden 1,4 Milliarden von der Treuhand übernommen. Für weitere 2,8 Milliarden Mark gab es eine „bilanzielle Entlastung“. Diese Kredite müssen nur bedient werden, wenn die Unternehmen Gewinn erzielen, und auch dann nur mit maximal 20 Prozent der Erträge. Zu bedenken gab Karlsruhe aber, daß bisher nur wenigen der heute noch bestehenden 1.400 LPG-Nachfolgern (von einst 4.000 Betrieben) die Entschuldung tatsächlich gelungen ist. Deshalb, so die Forderung des Senats, muß der Gesetzgeber spätestens zehn Jahre nach der Einheit, also im Jahr 2000, die Entschuldungsregeln überprüfen und notfalls nachbessern. Betrieben, die nach der Wende als „nicht sanierungsfähig“ von jeder Entschuldung ausgenommen wurden, nützt diese Hoffnung auf die Jahrtausendwende natürlich nichts mehr. Für diese Verlierer der Einheit, zu denen auch die LPG Schlanstedt gehört, steht keine Nachbesserung mehr zur Debatte. Das Gericht sprach von einer verfassungskonformen „zukunftsbezogenen Lösung“.

Schließlich sah das Verfassungsgericht auch kein Problem in der Schlechterbehandlung der LPG gegenüber den Volkseigenen Betrieben (VEB). Letztere waren vor dem Verkauf in der Regel zur Gänze von der Treuhand entschuldet worden. Die Differenzierung sei aber gerechtfertigt gewesen. Die Treuhandbetriebe hätten sich bei der Wende nämlich im Staatseigentum befunden, so daß sich hier der Staat selber geholfen habe. Hinter den LPG haben dagegen Privatpersonen gestanden.

Auswirkungen auf andere Altschuldenprobleme dürfte das gestrige Urteil nicht mehr haben. Vor zwei Monaten haben Bund und Länder ihren jahrelangen Streit um die Altschulden der Kommunen beigelegt. Für diese Verbindlichkeiten – rund 8,4 Milliarden Mark – übernehmen Bund und Länder künftig hälftig Tilgung und Zinsen. Den Kostenanteil des altschuldenfreien Landes Berlin übernahm der Bund, um einen weiteren Verfassungsstreit zu vermeiden.