Die Dramaturgie ist abgeschafft ...

■ und das Fernsehen fängt noch mal von vorne an: Erste Eindrücke vom "Ereignis- und Dokumentationskanal" Phoenix

Wenn schon als Ereignis gilt, viertelstundenlang auf das bart- und reglose Gesicht Rudolf Scharpings zu starren und danach eine weitere Viertelstunde auf das des DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte, macht Phoenix, der neue „Ereignis- und Dokumentationskanal“ von ARD und ZDF, seinem Namen alle Ehre. Wenn nicht, drängt sich mit Macht die Frage auf: Wer verbringt eigentlich seine Zeit damit, stundenlang Veranstaltungen wie dem DGB-Kongreß zu folgen. Höchstens wohl die anwesenden Gewerkschafter selbst, deren leicht weggetretene Mienen alle paar Minuten in Großaufnahme zu sehen waren.

Zwischen den Sendungen untermalen klassische Trompetenklänge über den Bildschirm schwebende Layout-Brocken aus dem Computer: „Machen Sie sich das ganze Bild“, verheißt Phoenix. Dann kommt ein neues Thema. Karlsruhe, Bundesverfassungsgericht. Entscheidung über die LPG- Entschuldung. Im Studio: ein Reporter und ein Experte, der auf Anfrage die Materie erklären soll. Schnitt in den Gerichtssaal, der Vorsitzende Richter stellt fest, wer gekommen ist. Ein Ereignis, auf das sich bislang ganz gut verzichten ließ. Zur Urteilsbegründung ist das Fernsehen nicht zugelassen. Da mußte der eloquente Experte wieder reden, und der redete gern.

Wie denn? Erst prophezeien die Fernsehkritiker den Untergang des Abendlandes, weil die gereichten Info-Häppchen immer kleiner werden, und wenn der TV-Zuschauer wieder als aufgeschlossen für abendfüllende Kleine Anfragen und Tarifrunden erklärt wird, gibt's schon wieder Medienschelte? Jawohl. Denn öde Kongresse und haltlose Experten in voller Länge abzufilmen, ist einfach zuwenig – zumal 68 Menschen an diesem Programm mitarbeiten, das 1997 um die 37 Millionen Mark kostet. Deshalb dürfte die Stimmung im Regieraum von Phoenix gereizt sein. Gewohnt, den unstillbaren Zuschauerhunger nach schnellen Bildern zu befriedigen, sollen Kameraleute plötzlich Magerkost satt liefern. Die Dramaturgie ist abgeschafft; das Fernsehen fängt noch mal von vorn an, an der Stelle, als die Kameras unbeweglich waren und es bereits ein Faszinosum war, daß aus der Mattscheibe überhaupt jemand rausguckte.

Vielleicht hätten Klaus Radke und Barbara Groth als Programmverantwortliche dem Ereignischarakter einer Duma-Sitzung mehr trauen sollen. Die Russen werden sich wieder im Parlament schlagen, und wir sind, Phoenix sei Dank, von der ersten geballten Faust bis zum letzten blauen Auge dabei. Bis dahin blinken zwischen DGB und EU-Parlament plötzlich die sanften Wellen des Bodensees; Aha, ein Martin-Walser-Porträt vom Bayerischen Rundfunk. Walser erzählt von der vielen Post, die zu beantworten ist, von befreundeten Schriftstellern. Er setzt sich mit Verleger Unseld zum Schach. Manchmal gibt der Reporter Hilfestellung, aber Walser kann auch selbst lange reden. Dann wieder der Bodensee. Mit dessen Anblick sich Walser bald gänzlich zufriedengeben will. Ihm wäre vielleicht auch Phoenix genug. Alexander Musik

Phoenix ist über Astra 1D zu empfangen. Für ältere Anlagen: 891Mhz, für neuere: 1141 Mhz