Im Strudel der Kindheit

■ Zur Poetik-Dozentur: Ein Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt

Die Hamburger Poetik-Dozentur wird in diesem Jahr von dem in Paris lebenden Übersetzer und Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt wahrgenommen. Seit Montag berichtet er in Vorträgen im Literaturhaus über die vielfältigen Aspekte seines Schreibens. Er wurde 1928 in Reinbek geboren, mußte 1938 als Kind jüdischer Eltern Deutschland verlassen und lebt seither in Frankreich. Seine autobiografischen Bücher wie „Ein Garten in Deutschland“ oder „Die Absonderung“ bezeugen ein drängendes Interesse an der Sprache.

taz: Warum schreiben Menschen immer wieder von der eigenen Erfahrung?

Georges-Arthur Goldschmidt: Tatsächlich ist schon alles gesagt worden. Neu muß es gesagt werden, aber jedesmal von jemand anderem. So steht auch das, was ich lese, nicht im Text, vielmehr entsteht das Verstehen in meinem Kopf, nicht auf dem Papier. Ein Text existiert nur dank seiner Leser.

Welche Bedeutung hat Sprache für die Beschreibung Ihres Lebens?

Für mich selbst habe ich keine Wörter, die Sprache scheitert vor dem Selbst. Was ich bin, kann ich nicht in Worte fassen, und aus dieser Enttäuschung entsteht das Schreiben. Die Urerfahrung des Schreibens hängt mit der Entdeckung zusammen, daß man erzählt und einem Glauben geschenkt wird; aber auch, daß man die Wahrheit sagt und einem keiner glaubt.

Wie haben Sie den Verlust der deutschen Sprache erlebt, als Sie mit zehn Jahren, 1938, nach Frankreich kamen?

Ich wurde der deutschen Sprache, in der ich als Kind zu Selbstbewußtsein kam, entrissen, gerade als ich lernte, mit der Sprache zu spielen. Das Sprachproblem war für mich ein doppeltes: Deutsche hatten mich aus meiner geliebten Muttersprache verjagt, und nun hörte ich um mich herum das Deutsche als Sprache der Unterdrückung, des Tötens. Noch bedrückender als die Angst, die ich wegen meiner jüdischen Herkunft auszustehen hatte, war die Tatsache, aus dem Land der Besetzer zu stammen.

„Die Absonderung“ handelt auch von den Schlägen, die Sie im französischen Kinderheim erhielten – und genossen.

Ich erfuhr die Wollust der Rute, die in Lust verwandelte Strafe. Die Erfahrung, daß die Strafe in ihr Gegenteil umschlägt, unterhöhlt jeden Glauben an Autorität.

Warum schreiben Sie stets über sich, über Ihre Kindheit in Reinbek und Ihre Jugend in Frankreich?

Ich bin unfähig, etwas zu schreiben, was außer mir steht. Ich möchte gerne etwas erfinden, kann es aber nicht, insofern bin ich kein richtiger Schriftsteller. Ich schreibe, weil die Kindheit in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat, daß ich um meine Kindheit und Jugend kreise wie in einem Strudel.

Hat Lesen Sie beeinflußt?

Wenn man als Junge in einem abgelegenen Gebirgsinternat lebt, ist man sein eigener Zeuge und weiß doch nichts von sich selber. Man glaubt sich dem Wahn, dem Laster, allen möglichen Dingen verfallen. Und plötzlich liest man einen berühmten Schriftsteller – und der ist genau wie man selbst: Ein großer Schriftsteller ist wie ein Freund.

Sie wurden aus Ihrer Heimat vertrieben – ein unwiederbringlicher Verlust?

Ich beschäftige mich immer wieder mit der Heimat, der Kindheit, weil ich mit meiner Reinbeker Heimat nicht fertiggeworden bin. Auch Frankreich ist meine Heimat. Ich bin französischer Staatsbürger, mein Land ist Frankreich. Ich habe also zwei Heimaten. Aber meine Urheimat, wo mein Leib entstanden ist und meine Seele angefangen hat, die ist in Reinbek. Das ist ein Bruch in mir, der ist unheilbar.

Fragen: Frauke Hamann