Sonderzug nach drüben

Raus aus der Idylle und rein in die Großstadt: 350 Bonner Beamte waren am Wochenende zum Hauptstadtgucken in Berlin. Gegen die Angst vor dem Moloch gab's Lachsbrötchen, Kabarett und Sonntagsreden  ■ Von Jens Rübsam

Als sich Willy Brandt von seinem Platz im Plenum erhob, langsam nach vorn ans Rednerpult schritt, dem Schäuble, der gerade „eine große Rede“ gehalten hatte, die Hand reichte und leise zu ihm sagte: „Herr Kollege, Sie haben Berlin gerettet“, da wußte er, die Entscheidung war gefallen. Für Berlin – gegen Bonn.

Das Gefühl hatte den alten Platzmeister des Bonner Parlaments, Karl-Heinz Schmitt, an diesem 20. Juni 1991 nicht getrogen. Berlin war soeben von einer „einminütigen großen Koalition“ als Bundeshauptstadt symbolisch besiegelt worden – und er stand dabei, „nur einen Meter neben Brandt und Schäuble“, vielleicht waren es auch eineinhalb. Wenig später sah er die Abgeordneten des Bundestages abstimmen, 338 für den Umzug nach Berlin, 320 dagegen. „Einige hatten Tränen in den Augen.“

Freitag morgen, kurz vor neun, Bahnhof Bad Godesberg. Die Prominenz drängt sich am Bahnsteig: Berlins Innensenator Jörg Schönbohm, der Altliberale Wolfgang Mischnik, die SPD-Streitfrau Herta Däubler-Gmelin. Um 9.06 Uhr hebt Familienministerin Claudia Nolte die Kelle: das Abfahrtssignal für den Sonderzug 18970 nach Berlin. Erstmals wird ICE-verkehrt zwischen der alten und der neuen Hauptstadt; ab 1. Juni soll es eine regelmäßige ICE-Bahnverbindung geben.

Karl-Heinz Schmitt hat es sich im BonnBerlinExpress gemütlich gemacht – bei Schnittchen mit zartem Lachs, Salami und Frischkäse, bei Kaffee und Tee. Die Berliner „Stachelschweine“ spulen erste Gags ab, die Bonner Lustfrau Karin Hempel-Soos kontert mit Selbstgedichtetem: „Was wird aus Bonn?“, und Karl- Heinz Schmitt erzählt immer wieder seine historische Anekdote von Brandt und Schäuble. Er zupft an seiner weinroten Lederweste, schiebt die Brille noch oben und gibt zu: „Ja, ich war geknickt, daß die Abstimmung so ausfiel.“ Er sei eben ein Ur-Bonner, einer, der 41 Jahre Dienst für Bonn geschoben habe.

Nun ist Karl-Heinz Schmitt auf den Weg in die neue Hauptstadt, gemeinsam mit 350 Noch-Bonner Beamten. Eingeladen hat die „Werkstatt Deutschland“ zu einer Wochenend-Schnuppertour unter dem Motto „Zusammengehören, zusammenkommen, zusammenwachsen“. Es soll nachgedacht werden über Realitäten, Visionen und Befindlichkeiten. Vor allem über Befindlichkeiten. Leonhard Kathge, Umzugsbeauftragter der Bayerischen Landesvertretung in Bonn, will es mal so sagen: „Bonn ist heimelig, provinziell im positiven Sinne, ordentlich und gepflegt, da kommen die Blumen aus der Erde.“ Und Berlin? „Da kommen die Baustellen aus der Erde.“ Und wer, fragt seine Frau, ziehe schon freiwillig auf eine Baustelle?

Gut, daß er nur als Zeitzeuge dabei ist, daß er nur zum Gucken nach Berlin muß. Karl-Heinz Schmitt ist 67 und längst pensioniert und, Gott sei Dank, nicht mehr von dem Umzugstheater betroffen. Aber seine Söhne. Der Ulrich ist Kraftfahrer beim Fahrdienst des Bundestages und hat sich bereits entschieden – gegen Berlin. „Das muß man verstehen: Der hat sich ein Häuschen gebaut, der hat eine Familie, einen Sohn, der noch zur Schule geht.“ Und sein Großer, der Willy, der ist Computerfachmann im Verteidigungsministerium. Der würde im Notfall die Koffer packen, muß es aber wahrscheinlich gar nicht. Das Bundesverteidigungsministerium ist eines von sieben Ministerien, das seinen Hauptsitz in Bonn behalten wird. Außerdem werden neue Behörden und Einrichtungen des Bundes in Bonn angesiedelt. Dietmar Bunk, Oberregierungsrat, erwartet einen Rutschbahneffekt: „Im Laufe der Zeit werden alle Ministerien in Berlin stehen.“ Karl-Heinz Schmitt grinst und meint: „Spätestens im Jahre 2003 ist alles drüben.“ Gute Nacht, Bundesstadt Bonn!?

Nein, nein. Maria Köpke läßt ab vom Mittagsimbiß, schräg geschnittenes Stangenweißbrot mit norwegischem Räucherlachs, zarter Putenbrust, Camembert- und Bavaria-blue-Käse. Sie reißt die Broschüre „Bonn blickt nach vorn“ aus dem Karton und sagt entschieden: „Wir sind nicht pessimistisch.“ Die Region um Bonn soll ein Zentrum von Wissenschaft und Technologie werden, schließlich würden die Ministerien für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und für Umwelt dableiben. Und außerdem: Die Flagge der UNO weht seit einem Jahr am Carstanjen-Haus; die Telekom hat das größte Gebäude von Bonn gebaut und ist schon eingezogen; die Deutsche Welle wird irgendwann aus dem Schürmann- Bau senden; und es gibt eine Museumsmeile. Bund und Land Nordrhein-Westfalen stecken auf Grundlage des Ausgleichsvertrages rund 3,4 Milliarden Mark in die Region.

„Nein, wir sind nicht pessimistisch“, beginnt Maria Köpke, für Tourismusfragen beim Wirtschaftsamt der Stadt Bonn zuständig, jeden dritten Satz. Und zwischen jedem vierten Zug an der Zigarette würde sie am liebsten allen, die an ihrem Abteil vorbeigehen, das Heft „Bonn blickt nach vorn“ in die Hand drücken. Nur: Viele kommen bei ihr im Wagen 5 („Bonn informiert“) nicht vorbei. Partyeinheitsstimmung herrscht anderswo im BonnBerlinExpress. Nämlich dort, wo es um Berlin geht.

Ein Lied muß her. Und der Gruner. Und die Grothum. Unsicher schiebt sich Wolfgang Gruner, Stachelschwein-Kaberettist und das Symbol für eine Berliner Schnauze, ins Talk- und Kultur- Abteil, und auch Brigitte Grothum, bekannt als eine von dreien am Grill, zwängt sich durch den Beamtenstau auf den Gängen. „Schnell, schnell“, schreit Organisatorin Marie-Luise Weinberger ins Gedränge, „ein Lied muß gesungen werden!“ Der Intercity rast auf die deutsch-deutsche Grenze zu, Helmstedt/Marienborn, auf den „antifaschistischen Schutzwall“, korrigiert der tatterige Professor Richard Schröder. „Im Jahre sieben nach Ultimo“, krakeelt Wolfgang Gruner im beschwingten Rhythmus. Den Leuten will er weismachen: „Im Jahre sieben, da sind die Zeiten wieder normal.“

Nicht für Alfred Müller, den Komödienstar aus DDR-Zeiten. Der 70jährige ist heute ein no name. Einer, der nach dem Mauerfall ganz von vorn anfangen mußte, den drüben keiner kennt, und die Bonner im Zug kennen ihn schon gar nicht. Als „Hauptmann von Köpenick“ marschiert er durch den BonnBerlinExpress, singt zwei Lieder in die Kamera und macht ein bißchen Werbung für das Theater am Kurfürstendamm – dem geht's nicht so gut. Und ihm? „Lamentieren nützt nichts.“ Man müsse sich eben erst einmal kennenlernen. Ost und West. Berliner und Bonner. Man müsse sich verstehen lernen, Vorurteile abbauen. Und wenn sein Aufritt hier im Zug dazu beitrage, daß die Bonner, wenn sie denn in drei, vier Jahren nach Berlin kommen, auch ins Theater kommen, na ja, sagt Alfred Müller, dann habe die ganze Zugfahrt doch ihr Gutes gehabt.

Freitag nachmittag, kurz nach drei, der Sonderzug fährt ein am Bahnhof Zoo. Der SFB begrüßt mit blauweißem Plakat „die Gäste aus Bonn“; Herbert steht am Fenster der Bahnhofsmission mit etwas Eßbarem in der Hand und lamentiert: „Die da gehen mir am Arsch vorbei.“

Am Brandenburger Tor wartet Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen auf einem Podest. Es ist kalt, er friert und sagt zu den „endlich eingetroffenen Bonnern“, das alles hier sei eine „gute Idee“. Ein Bärchen aus Porzellan gibt's für Amtskollegin Bärbel Dieckmann, „schön, daß Sie auch da sind“. Einen Bonner Löwen gibt's für Diepgen. „Bär und Löwen“ wünscht Dieckmann „eine friedliche Koexistenz“. Denn es gebe weder eine Bonner noch eine Berliner Republik, sondern nur eine Bundesrepublik Deutschland für Europa. Der alte Parlamentsmeister Schmitt applaudiert seiner Wuschelkopf- Bürgermeisterfrau und sagt: „Die Bärbel ist eine, die anderen zeigt, was die Butter kostet.“ Dann ist offiziell der erste Tag des Bonn-Berlin-Rendezvous zu Ende.

Samstag mittag, kurz nach halb zwölf, Staatsratsgebäude. Lutz Renner kann nicht mehr stillhalten. Bundesumzugsminister Klaus Töpfer hat gerade in Biervorfreude seine Plaudertaschen-Rede beendet. Er hat beteuert, der Hauptstadtumzug werde nicht teurer kommen als 20 Milliarden Mark, „eher liegen wir eine oder anderthalb Milliarden drunter“. Er hat von den 4.000 Alliierten-Wohnungen in guter Zehlendorfer Lage gesprochen, die er den Beamten anbieten könne, und von den 8.000 Mietwohnungen an 92 Standorten geschwärmt, die der Bund extra für seine Bediensteten bauen lasse. Er hat den Umzugstermin 1999/2000 noch einmal ausdrücklich bestätigt und zur Gelassenheit aufgerufen, auch wenn die Presse immer etwas anderes schreibe. Er hat auf das Problem „Palast der Republik“ hingewiesen und auf das hohe Maß an Sensibilität, das in dieser Frage notwendig sei, denn der Palast sei für die Ostler zu einer Ikone geworden, ein internationaler Wettbewerb werde nun ausgeschrieben, erst dann werde über die Zukunft des Gebäudes entschieden. Und als Töpfer zu deftiger Gulaschsuppe laden will, da hält es Lutz Renner, den Personalratsvorsitzenden im Bundeswirtschaftsministerium, nicht mehr auf dem roten Sessel. „Herr Töpfer, ein großes Problem haben Sie vergessen, die Ehegattenarbeitsplätze. Hier sind Sie als Umzugsbeauftragter gefordert.“ Applaus im Staatsratssaal.

„Was nützt es mir, wenn ich nach Berlin umziehe, Arbeit habe, meine Frau aber keine Arbeit findet und unzufrieden ist?“ fragt Renner. Arbeit bedeute ja nicht nur Geldverdienen, sondern auch soziale Kontakte. Das alles sei zu bedenken.

Bei 15 Prozent liegt die Arbeitslosenquote in Berlin (Bonn: 7,2 Prozent), und Klaus Töpfer strampelt sich mit den Armen zu einer Antwort durch: „Die Vermittlung von Ehegatten, die einen Job außerhalb des öffentlichen Dienstes haben, ist sehr schwierig. Da machen wir uns nichts vor.“ Kein Trost für Frau Renner, die in Bonn als Laborantin arbeitet und so richtig nicht nach Berlin umziehen will. Einerseits wegen ihrer 79jährigen Mutter, die betreut werden muß, andererseits, natürlich, wegen der unsicheren Arbeitsplatzfrage. „Einmal bin ich schon geschieden“, sagt Lutz Renner und nimmt seine Frau in den Arm, „noch einmal will ich das nicht riskieren.“ Klaus Töpfer empfiehlt die BonnBerlinBörse für Personalangelegenheiten. Mal schauen.

Auch, ob es sich überhaupt in Berlin wohnen läßt. Vielleicht im Speckgürtel, in Falkensee, Spandau oder Potsdam? Oder im Osten, in Pankow-Buchholz? Oder in der Rummelsburger Bucht? Renners haben sich für eine Fahrt nach Pankow entschieden, mit ihnen zwanzig andere. Die Mehrzahl der Beamten labt sich im grünen Speckgürtel.

„Das ist kein typisches Ostgebiet“, preist der Herr im feinen Anzug das Bauvorhaben Pankow- Buchholz an und fährt fort: „Es ist ja heute noch immer so, daß kein Westberliner in den Ostteil der Stadt zieht.“ Nur hier, in Pankow- Buchholz, sei das anders, „dieser Teil ist gut westdurchmischt.“ Bestens geeignet für Bonner Beamte.