■ Blüm ist der Sieger der Rentenreform – die Rente nicht
: Eine Glaubensfrage bis 1998

Kurz nach der Jahreswende schien Norbert Blüm am Abgrund zu stehen. Der altgediente Minister im Kabinett Kohl kippelte, weil seine Reformpläne zur Rente nicht nur erwartungsgemäß bei den Liberalen, sondern auch in Teilen der Union auf Abwehr stießen. Blüm aber blieb eisern, präsentierte sich in der klassischen Rolle des Sozialstaat-Bewahrers alter Schule. Am Umlageverfahren – die jetzige Generation der Erwerbstätigen finanziert die heutigen und die Renten von morgen – hielt er fest.

Das „Jahrhundertprojekt“, wie fast alles auf dem Sozialparkett der Koalition derzeit bezeichnet wird, blieb bei näherem Hinsehen aber ein Reförmchen. In der Hauptsache ging es zuletzt nur noch um zwei Punkte: Bis wann wird das Rentenniveau von derzeit 70 auf 64 Prozent abgesenkt? Und wie werden die zusätzlich benötigten jährlichen Zuschüsse von 15 Milliarden Mark finanziert, um die Abgaben unter 20 Prozent zu halten?

Einige Vorstellungen, die Blüm ursprünglich als Novum verkaufen wollte – etwa die steuerfinanzierte Familienkasse –, ließ er fallen, um das Gesamtpaket zu retten. Nicht er, sondern die FDP hat sich schließlich fügen müssen. Ihr blieb auch nichts anderes übrig, nachdem schon Kurt Biedenkopf innerhalb der CDU mit seinem Modell einer steuerfinanzierten Grundrente abgeschmettert wurde. Die Klientelpartei beugte sich aus politischer Räson den Volksparteien CDU/CSU, die eineinhalb Jahre vor der Wahl Trubel auf dem sensiblen Feld der Rente nicht gebrauchen können. So ging es am Ende nur noch darum, wie FDP und Union das Gesicht wahren. Folglich wurde die Laufzeit der Rentenabsenkung zur Interpretationsmasse. Ob nun 2015 oder 2030, eine genaue Festlegung wurde peinlichst vermieden.

Eine präzise Zeitfixierung würde suggerieren, was höchst umstritten ist: Die FDP glaubt, daß die Lebenserwartung der über 65jährigen in den nächsten Jahren schneller steigen wird – also mehr Arbeitnehmer das Rentenalter erreichen –, so daß das Rentenniveau eher abgesenkt werden muß. Blüm hingegen interpretiert das Zahlenmaterial weitaus vorsichtiger. Genau diese Unschärfe aber macht das Dilemma der Koalitionäre aus. Weil sie mit dem Zahlenmaterial umgehen wie Auguren, wird die Zukunft der Rente zur Glaubenssache. Daran mag man eine Zeitlang festhalten. Allerhöchstens bis zur Bundestagswahl 1998. Severin Weiland