Gedenken statt Gedankenlosigkeit

■ Schülerinnen erklären ihren Entwurf für das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin und stellen individuelles Gedenken in den Vordergrund

Berlin, ehemalige Ministergärten. Über einen einsamen Platz nähere ich mich dem Zentralen Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Zwischen zwei zu Salzsäulen erstarrten Trauernden betrete ich das kreisförmige Mahnmal, um das sich ein Gang windet.

Die Enge, die nur einzelnes Begehen des Ganges ermöglicht, die in der Ferne widerhallenden Schritte des anderen Besuchers, die umfangende Dunkelheit – dies alles erdrückt mich.

Plötzlich ein Lichtstrahl! Meinem Auge offenbart sich ein Augenblick puren Lebens. Menschen an einer Festtafel sitzend, scherzend einander zugewandt, fast möchte man die Gesprächsfetzen des fröhlichen, ausgelassenen Festes vernehmen. Ich möchte teilhaben an der Freude dieser Menschen, doch verwehrt mir eine kalte, harte, rostende Eisenwand den Zutritt.

Mit regem Interesse wende ich mich dem zweiten Raum zu. Doch auch hier wird der Einblick nur durch drei Schlitze in der Metallwand gewährt. Erschreckt sehe ich wenige Körper in Spiegeln sich zu Tausenden vervielfachend mir den Rücken zuwenden. Jegliche Individualität scheint diesen leblosen Körpern entzogen zu sein. Sie scheinen ihrer Seelen beraubt, gleichgeschaltet zu sein.

Einsam und bedrückt schleiche ich den engen Gang weiter. Doch was sich nun meinem Auge bietet, läßt mich erstarren! In der Mitte eines weiten Raumes windet sich ein verzweifelter Mensch im Todeskampf, dessen Ausweglosigkeit durch die Farbe Lila unterstrichen wird. Ich möchte mich dem Trauernden nähern, ihn aus seiner Einsamkeit befreien, zumindest mit ihm mitleiden, doch ich werde durch meine eigene eiserne Begrenztheit gehindert.

Ich möchte dieser bedrückenden Enge in die Gegenwart entfliehen!

Im nächsten Raum erblicke ich eine Grabplatte, in die das Jiskor, das Gebet zum Gedächtnis der jüdischen Märtyrer, eingraviert ist. Durch ein hochaufragendes Stahlgerüst ist es mir möglich, das fröhliche Fest zu sehen. Doch bedrückt das Stahlgerüst als Metapher für die Vergessenheit und Leere. Mir wird bewußt, ohne mein Erinnern sind die Lebenden der Vergangenheit nur noch ein Nichts.

Irritiert verlasse ich das Mahnmal. Aus einiger Entfernung sehe ich das Stahlgerüst des Vergessens, durch das ich die Silhouette des Potsdamer Platzes erkenne.

Was aber wollen die Künstlerinnen mit dem Mahnmal bewirken? Individuelles Gedenken statt öffentlicher Gedankenlosigkeit!

Nur wenn die persönliche Konfrontation mit der Vergangenheit Grundlage für das öffentliche Gedenken wird, ist öffentliches Gedenken unserer Auffassung nach, seien es Gedenktage oder Gedenkstätten, nicht länger eine Farce. Dieser Idee möchte unser Mahnmal auf visionäre Weise Rechnung tragen. Der Wandelgang, der die individuelle Auseinandersetzung herausfordert, weil er nur einzeln begehbar ist und den Betrachter in die Rolle eines passiven Mitwissers zwingt, und die Metallwand, die Opfer vor dem Eingriff der Betrachter schützt, werden dem natürlichen Verfall überlassen. Dieser Verfall ist eine Metapher für die wandelnde Vergangenheitsreflexion, das heißt, erst wenn sich eine Vielzahl von Menschen über einen langen Zeitraum mit der Vergangenheit auseinandergesetzt, sie als einen Teil ihres Lebens akzeptiert haben, wird unser Denkmal durch den natürlichen Verfall des Rostens sein Inneres dem Publikum preisgeben. Erst dann könnten Schulklassen und Politdelegationen an unserem Mahnmal Kränze niederlegen und öffentlich gedenken.

Doch das ist eine Zukunftsvision. Heute wird der Besucher bewußt vom Mitleiden abgehalten, um eine Reinigung durch bloße Emo-

tionen zu verhindern, und so

zu einer Stellungnahme gegenüber seiner Geschichte gezwungen.

Abschließend ist zu erwähnen, daß Gedenken viele Formen haben kann und sich nicht auf Mahnmale beschränken muß.Gedenken muß irritieren, muß sich den Menschen in den Weg stellen. Außerdem: Wozu brauchen wir eine Stellvertretergedenkstätte, wenn in unserer Nähe authentischere Orte des Gedenkens aus Geldmangel zerfallen? Friederike Greulich/Miriam Kühn

Unser Mahnmal entstand im Rahmen eines fächerübergreifenden Unterrichtsprojekts der Katholischen Theresienschule Berlin-Weißensee.

Unter der begleitenden Anleitung unserer Kunstlehrerin Mechthild Zech und unseres Politiklehrers Andreas Kühler entstanden acht verschiedene Entwürfe, die vom 7. Mai bis voraussichtlich 26. September 1997 zu besichtigen sind im Schulmuseum:

Wallstraße 32,

10179 Berlin,

Tel.: 275 03 83.

Dienstag,

Donnerstag, Freitag: 9–16 Uhr, Mi.:

9–18 Uhr