: Wozu in die Ferne schweifen?
Brandenburgs Wirtschaft liegt am Boden, in Zukunft könnte der Tourismus eine Einnahmequelle bieten. Der geplante Naturpark Barnim im Nordosten Berlins gewinnt an Konturen ■ Aus Bernau Katja Gilbert
Majestätisch zieht der Seeadler seine Kreise. Der „Fliegende Edelstein“, wie der Eisvogel auch genannt wird, brütet in steilen Abbruchkanten der naturnahen, unbegradigten Fließgewässer. Inzwischen selten gewordene Tiere wie Fischotter und Elbebiber schlängeln sich hier durchs Gebüsch. Hier – das ist ein Gebiet im Nordosten Berlins, etwa zwei Drittel so groß wie Berlin: der geplante Naturpark Barnim. Das Areal zwischen Oranienburg, Liebenwalde, Eberswalde, Bernau und den Berliner Stadtbezirken Pankow und Reinickendorf ist ein Mosaik der Natur: Erlenbruchwälder wechseln sich ab mit Mooren und Seen wie auch Mischwäldern, immer wieder unterbrochen von Fließen.
Die Idee zu einem Naturparkprojekt gibt es schon seit 1990. Zwei Jahre später, so der Hauptinitiator Dr. Mario Schrumpf von der Landesanstalt für Großschutzgebiete, „haben wir den ersten Entwurf des Naturschutzkonzeptes in der ganzen Region veröffentlicht“. Es folgt seitdem eine breite öffentliche Diskussion. 1994 wird von Brandenburgs Umweltminister Platzeck die „Planungswerkstatt Barnim“ einberufen. Die Werkstatt setzt sich aus Vertretern der Behörden und der Naturschutz- und Tourismusverbände zusammen und hat die Aufgabe, ein naturverträgliches Gesamtkonzept auszuarbeiten, das die jeweiligen ökonomischen und ökologischen Interessen vertritt.
Die erwarteten Konflikte liegen mitunter woanders: Anfangs sehen es Brandenburger Behörden gar nicht gern, daß sich ihre Berliner Kollegen Gedanken um ihr Gebiet machen. Doch eine zukunftweisende Politik hört an der Landesgrenze nicht auf.
So hat das Land Berlin im März 1994 sein Naturschutzgesetz dahingehend geändert, daß die vom Projekt betroffenen Berliner Bezirke Reinickendorf und Pankow mit einer Fläche von 2.500 Hektar (3,3 Prozent der Gesamtfläche) mit einbezogen werden.
Wie sieht es gegenwärtig im Barnim aus? Auf den Zusammenbruch der Industrie und Landwirtschaft nach dem Systemwechsel folgte eine hohe Arbeitslosigkeit. Was Wunder, daß die Bevölkerungszahl seither rapide abnimmt. „Die in weiten Teilen noch intakte Landschaft ist Folge einer seit jeher strukturschwachen und infrastrukturell unterentwickelten Region im Schatten von Berlin“, so Dr. Mario Schrumpf.
Neue Wege sind gefragt. Der Naturpark ist Mittel zum Zweck. Er ist eine Chance, bestehende Defizite abzubauen und neue wettbewerbsfähige Vermarktungsmöglichkeiten zu entwickeln. Einige Ansätze, den Naturschutz mit der Landwirtschaft zu verbinden, gibt es bereits. So bietet der Oberhavel- Bauernmarkt der Agrar GmbH Schmachtenhagen regelmäßig Produkte aus der Gegend an.
Der Begriff „Naturpark“ könnte den Absatz erheblich steigern. Lassen sich doch Produkte mit diesem Hinweis besser vermarkten. Der Verbraucher kauft eben statt der „Milch aus Bernau“ lieber die „frische Milch aus dem Naturpark XYZ“ oder das „sprudelnde Mineralwasser aus der klaren Urstromquelle ABC“.
Da die Landwirtschaft allein heute das Einkommen der Familien nicht mehr sichern kann, soll der Tourismus als zweites Standbein genutzt werden. Allerdings darf dies nicht der Massentourismus sein. Die Barnimer würden für wenige Jahre einen Aufschwung erleben, doch später mit unzähligen leeren Hotels und einer zerstörten Natur wieder – so wie heute – mit leeren Händen dasitzen. Das hat auch die „Planungswerkstatt Barnim“ erkannt und entwickelt jetzt ein System von Rad-Wander- und Reitwegen in der Region.
In den vergangenen Jahrzehnten hatte man sich auf Landwirtschaft und die Industrie konzentriert. Viele Häuser in den Dörfern und Städten nördlich von Berlin wurden so vernachlässigt. Nun sind sie reif zum Sanieren. Es fehlt aber das Geld, um Ferienwohnungen ausbauen zu können. Deshalb fordert Jens Redlich (Planungswerkstatt Barnim) von der Regierung gezielte Förderprogramme für den Ausbau von Ferienwohnungen. Mit diesen Wohnungen hätten die Einwohner einen kleinen Nebenerwerb, und der Neubau von Hotels, die nur sehr wenigen Menschen Arbeit bieten und die Landschaft durch unkontrollierten Tourismus zerstören, könnte verhindert werden.
Die Brandenburger sind nicht die ersten, die das ausprobieren wollen. Ein Forschungsbericht des Bundesumweltministeriums aus dem Jahr 1992 stellt fest, daß zwei Drittel aller westdeutschen Naturparks in strukturschwachen Regionen liegen und sich die Standortnachteile dort inzwischen durch einen wachsenden Fremdenverkehr ausgleichen. Die regionale Wirtschaft kann oftmals wieder aufatmen. Um die Bürger von dieser Einschätzung zu überzeugen, leistet die „Planungswerkstatt Barnim“ sehr viel Öffentlichkeitsarbeit. Vorurteile sind zu überwinden. Das Gewerbe könne sich nicht ausbreiten, argumentieren Naturparkgegner, wenn Grenzen von Natur- und Landschaftsschutzgebieten festgelegt werden. Schnell ist da vom Jobkiller Umweltschutz die Rede. Momentan jedoch werden keine weiteren Gewerbeflächen benötigt. Mit 50 Quadratmeter Gewerbefläche pro Einwohner ist Barnim überdurchschnittlich versorgt.
Für Parkbefürworterin Petra Bierwith (SPD) zeugt der „Versuch, den Naturschutz für die gegenwärtige wirtschaftliche Lage verantwortlich zu machen, von arbeitsmarktpolitischer Inkompetenz“.
Video, Faltblätter, Positionspapiere wurden über das Vorhaben veröffentlicht. Ein 1995 veranstalteter Fotowettbewerb zu passendem Thema sollte die Menschen für das Projekt sensibilisieren und empfänglich machen. Die Mühe sollte sich gelohnt haben: Umfragen in der regionalen Presse ergaben ein positives Meinungsbild.
Das Projekt Naturpark, das noch in dieser Legislaturperiode eröffnet werden soll, wird mit dem „1. Berlin-Barnimer Radwandertag“ am 1. Juni 1997 auch einmal der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Symbolisch wird Berlins Umweltsenator Peter Strieder per Velo den brandenburgischen Ministerkollegen Matthias Platzeck den Stafettenlaufstab übergeben.
Ausgehend von den Haltestellen des Schienenverkehrs, ist der Barnim gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Nachdem die Deutsche Bahn AG in einer Hochglanzbroschüre zunächst eine Teilstreckenstillegung ankündigte, erreichten die Proteste des Fußgängerschutzvereins FUSS e.V., des Vereins „pro Bahn“ und anliegender Gemeinden eine Taktverdichtung der für den Tourismus wichtigen Heidekrautbahn. Kreisübergreifende Linien, die die Landkreise Barnim und Märkisch- Oderland miteinander verbinden, gibt es allerdings immer noch nicht.
Fernziel für Jens Redlich ist, den Radwanderweg Berlin– Wandlitz über Schorfheide–Chorin und andere geschützte Gebiete bis zur Ostseeinsel Bornholm zu verlängern. Er könne dann als Fernradwanderweg Berlin–Bornholm in den Karten eingezeichnet sein. An der Strecke würde sich eine entsprechende regionale Wirtschaft entwickeln: sanfter Tourismus. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg...
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen