Der Alltag im Niemandsland

Wie ein bosnisches Ehepaar um ein bißchen Kontrolle über das eigene Leben kämpft – und gegen die wachsende Angst vor der Abschiebung  ■ Aus Berlin Andrea Böhm

Der Briefumschlag ist zerfleddert. Sie war aufgeregt, als sie ihn geöffnet hatte. Diese zittrige Anspannung, die einem in die Fingerspitzen flitzt, weil ein paar Zeilen darüber entscheiden, auf welcher Erdhalbkugel man den Rest seines Lebens verbringen wird. „Wir danken ihnen für Ihren Einwanderungsantrag“, schreibt die australische Botschaft. Und teilt mit, daß eine endgültige Bearbeitung aufgrund des großen Andrangs erst in den nächsten zwölf Monaten erfolgen kann. „Wir bitten Sie, uns in dieser Zeit nicht anzurufen.“

Anka Nikolić (Name von der Redaktion geändert) steckt den Brief sorgfältig wieder in den Umschlag, den Umschlag in eine Mappe mit Klarsichtfolien und lächelt ein bißchen über ihre Enttäuschung. Wie konnte sie vergessen, daß es zwischen Ablehnung und Bewilligung, zwischen Ja und Nein immer eine dritte, eine wahrscheinlichere Option gibt: Das Warten. Zwölf Monate sind keine zeitliche Kategorie, mit der Anka Nikolić und ihr Mann Zoran viel anfangen können. Darauf zu bauen, was in einem Jahr sein könnte, ist für Flüchtlinge gefährlich. Zukunftspläne sind gefährlich. Scheitern sie, kann einen das leicht aus der Balance werfen. Vor allem, wenn man ein solch prekäres Kunststück versucht, wie es Zoran Nikolić beschreibt: „Optimist bleiben, obwohl man kein Vertrauen mehr in die Menschen hat.“

Gäbe es in den Köpfen deutscher Politiker so etwas wie den perfekten Flüchtling, dann würden Anka und Zoran Nikolić diesem Bild wohl entsprechen. Keine sechs Monate nach ihrer Flucht aus ihrer Heimatstadt Brčko im Sommer 1992 hatten sie im Berliner Wedding eine kleine Wohnung und Arbeit gefunden – Anka, ehemals Angestellte einer Import-Export-Firma, fing mit 38 Jahren hinter der Theke bei „Burger King“ an, wo sie sich inzwischen zum „assistant manager“ einer Ostberliner Filiale hochgearbeitet hat. Zoran, ehemals Speditionskaufmann, fand mit 43 Jahren einen Job als Fahrer und Bauhelfer. Sie zahlen pünktlich ihre Steuern – und zwar „reichlich“, wie Anka findet. Die Plackerei geht auf die Knochen, und Ankas Schichtdienst läßt nicht viel Zeit für ein Familienleben. Aber eben auch keine Zeit, um nachzudenken. „So“, sagt Zoran mit seinem melancholischen Lächeln unter dem Seehund-Schnauzer, „therapieren wir uns selbst“.

Das funktionierte einigermaßen. Bis die Berliner Ausländerbehörde dem Ehepaar Nikolić, das sein Leben bis dahin unter größtmöglicher Entlastung des deutschen Steuerzahlers organisiert hatte, im Januar keine Duldung mehr, sondern eine Meldefrist bis zum 27. Mai erteilte. Jetzt liegen die Nerven blank, jetzt ist das Gefühl weg, wenigstens ein bißchen Kontrolle über ein unkontrollierbares Leben wiedergewonnen zu haben. Denn nach dem Meldetermin setzen die Ausländerbehörden gewöhnlich die nächste und letzte Frist: zur Ausreise.

Noch bis Mitte diesen Jahres sollen auf Beschluß der Innenminister mindestens 80.000 der rund 320.000 bosnischen Kriegsflüchtlinge zurückkehren – in eine „schwierige Situation“, wie der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm gern einräumt. Aber es sei jetzt an der Zeit, daß die Flüchtlinge „mit ihren Landsleuten gemeinsam das Land aufbauen und das nicht denen überlassen, die wirklich den Bürgerkrieg vor Ort durchlitten haben.“ Zusammen mit seinem bayerischen Amtskollegen Günther Beckstein glaubt er, denen, die sich seiner Sicht der Dinge nur zögerlich anschließen, mit „signalhaften Abschiebungen“ auf die Sprünge zu helfen. Manchmal kommen die Beamten in den frühen Morgenstunden ins Flüchtlingsheim oder in die eigene Wohnung, manchmal kommen sie zur Arbeitsstelle. Es werden Ehepaare auseinandergerissen, bettlägerige 70jährige mit Abschiebung bedroht oder Flüchtlinge abgegriffen, die längst ihre freiwillige Rückkehr vorbereiten.

Zum Beispiel in Berlin am Mittwoch vergangener Woche, als vier Polizeibeamte in Zivil zwei Bosnierinnen aus einem Heim für traumatisierte Frauen holten, in einen Gefangenentransporter mit einem Mordverdächtigen und zwei Prostituierten sperrten und in der Abschiebehaft ablieferten. Zurück blieben hektisch telefonierende Sozialarbeiterinnen und etwa zwanzig Flüchtlingsfrauen, darunter Folteropfer, die den Vorgang teils weinend, teils wie gelähmt beobachtet hatten. Am nächsten Tag waren die beiden Musliminnen, eine 47jährige Mutter und ihre 19jährige Tochter, wieder frei. Ihre Ausreiseaufforderung enthielt eine Meldefrist bis zum 3. Juli. Beide sind ohnehin dabei, ihre Rückreise zu organisieren.

Das beabsichtigte Signal haben die Nikolićs längst verstanden – auch ohne die Schockstrategie, die ausgehend von Berlin und Bayern unter allen bosnischen Kriegsflüchtlingen in Deutschland Wellen geschlagen hat. Dieses Land, das die Flüchtlinge großzügig wie kein anderes aufgenommen hat, will sie wieder loswerden. Die Kassen der Länder und Kommunen sind leer; es gibt keinen Bundesausgleich für Länder wie Berlin, das mit rund 29.000 Flüchtlingen überdurchschnittlich viele Menschen aus Bosnien aufgenommen hat. Man will Geld sparen – und die Zeit nutzen, solange in Bosnien der Frieden, der eher einem brüchigen Waffenstillstand ähnelt, anhält.

Daß diese Prozedur nach dem Prinzip Panik für die Betroffenen entwürdigend und für das Land Bosnien gefährlich ist, haben inzwischen Politiker von den Grünen bis hin zu Bundesaußenminister Klaus Kinkel und Verteidigungsminister Volker Rühe festgestellt. Daß es auch anders geht, haben Städte wie das rheinische Düren, Kaiserslautern oder Bielefeld bewiesen, wo man anstelle des angedrohten Fußtritts den Flüchtlingen eine intensive Beratung über die Situation in einzelnen Regionen, über Starthilfen und Zuschüsse deutscher und internationaler Behörden setzt. Das Gesamtbild dominieren die Abschiebungen und die vollmundigen Ankündigungen noch bis zum Sommer mindestens 80.000 Kriegsflüchtlinge zurückzuschicken.

Das Flüchtlingskommissariat der UNO warnt vor einer überstürzten Rückkehr ebenso wie der Chef der Weltbank-Mission in Sarajevo oder der Stellvertreter des Hohen Repräsentanten für den Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas, Michael Steiner. Denn der „Phasenplan“ der deutschen Innenminister, nach dem erst Ledige und Kinderlose und nun auch Familien zurückgeschickt werden sollen, ignoriert das entscheidende Problem: Die meisten der bosnischen Kriegsflüchtlinge in Deutschland stammen wie die Nikolićs aus Gebieten, die heute serbisch besetzt sind.

Die Machthaber sind dieselben, die den Krieg und die „ethnischen Säuberungen“ vorangetrieben haben. Ihr fast „reines“ Mini-Serbien, auch Republik Srpska genannt, durch die Wiederansiedlung muslimischer oder kroatischer Flüchtlinge zu durchmischen, fällt ihnen nicht im Traum ein. In der bosnisch-kroatischen Föderation aber hat man derzeit alle Hände voll zu tun mit rund 400.000 Binnenflüchtlingen, einer Arbeitslosenrate von mindestens 50 Prozent und katastrophalem Wohnungsmangel.

Zoran Nikolić fingert aus der Mappe mit den Klarsichtfolien seinen verblaßten blauen Mitgliedsausweis der IG Metall hervor. „Funktionär Klasse II“ ist hinten eingestempelt. Die Nikolićs waren schon mal hier gewesen – damals in den 70er Jahren als „Gastarbeiter“ und „Jugos“. Sohn Sascha wurde hier geboren. Bei der „Waggon Union“ hat Zoran Nikolić die doppelstöckigen Busse der Berliner Verkehrsunion zusammenmontiert. Sie gingen 1981 nach Brčko zurück, kauften ein Haus, und erwarteten vom Leben, was ein Mensch eben so braucht. „Seine Freiheit“, sagt Anka. „Und gut Geld verdienen.“

Elf Jahre später sind sie Flüchtlinge, genauer gesagt: Serbische Flüchtlinge, vertrieben von Serben, weil sie bis zuletzt nichts von großserbischen Wahnideen hielten. Was die Sache nicht einfacher macht. Denn sie haben auf unabsehbare Zeit keinen Ort der Rückkehr, wo es nun zum wiederholten Mal ein neues Leben aufzubauen gäbe. Ihr altes Brčko existiert nur noch auf dem Foto im Flur ihrer Weddinger Wohnung. Für die Serben dort gelten sie als Verräter; in der bosnisch-kroatischen Föderation, sagt Anka, „sind wir einfach nur Serben. Da wird der Nationalismus ja auch schlimmer. In Sarajevo sieht's doch jetzt schon muslimischer aus als in Ankara.“

Es bliebe also vorerst nur Berlin. Sascha, inzwischen 21 Jahre alt, hat vor ein paar Monaten in Freiburg geheiratet. Eine Deutsche, Tochter einer Familie, die sich vor Generationen in Angola niedergelassen hatte, bevor sie in den 70er Jahren nach Beginn des Bürgerkrieges zurück nach Deutschland floh. So etwas habe er selten gesehen, stutzte der Standesbeamte bei der Trauung: Eine Deutsche, die in Afrika geboren ist, heiratet einen Bosnier, der in Berlin zur Welt kam. In anderen Ländern verbucht man solche Kombinationen ohne größeres Aufsehen unter der Rubrik „Einwanderungsgesellschaft“. In Berlin mußten die Nikolićs einen wochenlangen Kleinkrieg für die Erlaubnis führen, die Landesgrenzen von Berlin zwecks Teilnahme an der Hochzeit ihres Sohnes zu verlassen.

Sascha hat jetzt eine Aufenthaltsbefugnis, seine Eltern eine Meldefrist. Ihre neuen bosnischen Pässe, die sie sich für eine Gebühr von je 400 Mark bei der bosnischen Botschaft abgeholt haben, hat die Ausländerbehörde eingezogen. Anka will sich eigentlich auf die nächste Frühschicht bei „Burger King“ konzentrieren. Aber im Kopf rasen die Fragen. Welche Bank gibt ihnen ohne Paß ihr Erspartes zurück, wenn sie nun plötzlich zurückgeschickt werden? Was passiert mit den Möbeln? Wo sollen sie hin, wenn alle Freunde und Verwandten aus Brčko bis nach Kanada und Australien verstreut sind? Wer soll noch glauben, daß die UNO in Brčko tatsächlich einen Präzedenzfall für die Rückansiedlung von Vertriebenen schaffen kann?

„Das hat doch schon in Mostar nicht funktioniert“, sagt Anka, der jetzt immer häufiger das Wasser in den Augen steht. Wenn sie nun noch mal von vorne anfangen müssen, er mit 48, sie mit 43 Jahren, dann lieber in Australien, wo auf absehbare Zeit keine wahnwitzigen Nationalisten die Gesellschaft auseinanderzusprengen drohen. Englisch müßten sie lernen, und Zoran müßte sich mit Rugby anstelle seines geliebten Fußballs anfreunden. Am vorigen Montag saß er trotz müder Knochen im Olympia-Stadion beim Spitzenspiel der zweiten Liga – Hertha BSC gegen den 1. FC Kaiserslautern. Seine Hertha hat 2:0 gewonnen – und es tat verdammt gut, wenigstens für 90 Minuten zu wissen, auf welche Seite man gehört.