Gelebte Bulimie für jedermann

Skelett- und fettlose Wesen schwingen handliche Keulen. Eine Betrachtung anläßlich der gestern und heute in Ludwigsburg stattfindenden Masters-Veranstaltung in der Rhythmischen Sportgymnastik  ■ Von Fritz Eckenga

Die Disziplinen heißen Band, Ball, Reifen und Keule. Brust – nicht. Brust ist auch eher schlecht. Brust beziehungsweise und genauer „Busen“ zu haben stört ab einem gewissen Volumen das ästhetische Empfinden der Betrachter, vor allem aber wohl das der Preisrichter. Rhythmische Sportgymnastinnen mit zu großem Busen werden Neunte oder Zehnte. Aufs Treppchen, unter die ersten drei, kommt daher in der Regel immer nur garantiert regelloses, dehn- und stretchfähiges Athletinnenmaterial ohne erkennbare sekundäre Geschlechtsmerkmalausprägung.

Drei Minuten Band, drei Minuten Ball, drei Minuten Reifen, drei Minuten Keule, drei Minuten Brechen. Rhythmische Sportbulimistinnen. Drei-Minuten-Trinen aus der Calvin-Klein-Model-Versuchsküche. Offenbar wirbel- und gänzlich skelettlose Wesen mit denaturierter rhythmischer Magen- und Darmperistaltik. Findet das irgend jemand zum Kotzen?

Jedenfalls nicht das Publikum. Rhythmische Sportgymnastik ist ein populärer Sport mit großer ansteigender Zuschauerresonanz. Vielleicht liegt das ja daran, daß die Masse in ihrer durchschnittlichen Individualausführung so überaus breit ist, pommesgesäßbehaftet und bierbauchträchtig daherkommt – cellulitisiert, verschwimmringt, fassungslos fett also und gänzlich unerotisch – und deshalb ihr Gegenteil, nämlich gymnastiktaugliche Gummigeschöpfe mit straffem Hautbezug, sexuell stimulierend findet.

Wie auch die meist männlichen Fernsehsportreporter höchst vernehmlich ihre Körperflüssigkeiten kaum bei sich behalten können, wenn sie das artistische Treiben auf der Gummimatte zu besprechen haben. Nur gut, daß man die hechelnden Kommentatoren bei ihrer Berufsausübung nicht auch noch sehen muß. Das läßt ein wenig Luft für erotische Denkspielräume.

Man muß allerdings schon etwas abseitige Phantasien zulassen und darf sich auf keinen Fall selbst beschränken, wenn man vom Fernsehsessel aus – Bierflasche in der Linken, Essigchipstüte in der Rechten – den spreizenden Magermädels zuschaut und das gespreizte Altherrengesabber auf sich wirken läßt. Ich stelle mir jedenfalls immer vor, daß die Reporter in sportlichen Acrylrollis vor sich hindünsten, in abgedunkelten Pressekabinen, ganz allein mit sich und ihrem Mikrofon gelassen die schwülfeuchte Turnhallenluft noch etwas schwülfeuchter anreichern und dann den fettgewebefreien Objekten ihrer müffelnden Begierde sekretig zwischen die Spagate sprechen: „Junge Frauen, gerade dem Mädchenalter entstiegen – äh – anmutige Körperbeherrschung und erotischer Ausdruck auf höchstem Niveau – äh – Einheit von geschmeidigem Bewegungsgefühl junger Athletinnen und – äh – rhythmischer Gleichklang von Musik und Körperlichkeit – ÄHHH...“

Und dann ergibt sich der Reporter sämig seiner eigenen Körperlichkeit, drückt die Mikrofonräuspertaste, bleibt ein kleines Weilchen unhörbar. Dieses Weilchen aber nutzt der geschulte Zuhörer, um sich ebenfalls zu ergeben bzw. diskret zu übergeben. Womit der Kreis geschlossen ist. Rhythmische Sportgymnastik. Gelebte Bulimie für jedermann. Erotik auf der Höhe der Zeit.