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Das ganz große Rhabarbern: Der Literaturkritiker Hubert Winkels empfiehlt der Literatur ein mimetisches Verhältnis zum Fernsehen und zu den neuen Medien  ■ Von Mariam Niroumand

Noch immer lachen die Kollegen von der französischen Tageszeitung Libération in Randglossen über Pierre Bourdieus neueste Einlassungen zum Thema Fernsehen. In der kleinen Streitschrift „Sur la télévision“ hatte der Soziologe hohe Klage darüber geführt, daß die magischen Kanäle nichts als grobe Vereinfachung leisten, komplexere Zusammenhänge einfach nicht aufnehmen könnten. Das seinerseits recht einfach argumentierende Pamphlet paßte offenbar gut in die plappernde Landschaft – und wurde Bourdieus bislang bestverkauftes Buch.

Auch andernorts ist der Soziologie – mit Ausnahme vielleicht von Niklas Luhmann, der gar nicht erst einen Fernseher besitzt – wenig zu den „neuen Medien“ eingefallen. Die große Klage über deren Null und Nichtigkeit wurde hierzulande eher von Schriftstellern geführt – Enzensberger, Strauß, Handke –, deren Texte aber auch begeistertes Echo bei den Angegriffenen fanden und regelmäßig zu nationalem Debattenformat aufliefen.

Der Literaturkritiker Hubert Winkels hat auf beiden Seiten der Front gearbeitet, was zu erfreulichen Präzisierungen beispielsweise bei der Beschreibung von Fernsehformaten führt. Inzwischen Literaturredakteur beim Deutschlandradio, hat Winkels nicht nur Literaturkritiken geschrieben, sondern auch im Fernsehen gesendet. Eine witzige Passage in „Leselust und Bildermacht“, seinem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Essayband, beschreibt, wie jemand mittags mit zehn Manuskriptseiten einer Buchkritik ins Fernsehstudio aufgebrochen war, um dann schließlich, nachdem er geschminkt, gesesselt und anmoderiert wurde, in aller Zeitnot nur noch etwas von „unspektakulärer und subtiler Erzählung“ brabbeln zu können, die etwas mit „Sexualität, aber indirekt auch mit Politik“ zu tun hat – genau das Rhabarbern also, das Bourdieu meinte, und das einen nachts vor Scham nicht schlafen läßt.

Auch Winkels sieht Gutenbergs Galaxis und Cyberspace unversöhnlich zerfallen. Der Leser, die Figur des über ein Buch gebeugten Kopfes, sei schon ein Anachronismus; bald werde man ihn belächeln wie früher den religiösen Schwärmer. Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bücher sofort in eins über Filme mündet? Aber hinter den beiden bislang praktizierten literarischen Reaktionen auf diese Lage – „seichter werden“ wie Thomas Brussig oder „Benutzeroberfläche aufrauhen“ bei Marcel Beyer oder Peter Weber – sieht Winkels nur noch die gemeinsame Panik, die nicht zur Kenntnis nehmen will, daß sich die Literatur auf Dauer in einer Nachklapp-Situation einzurichten habe:

„Literatur erzählt heute nach dem Fernsehen. Ihr Stoff ist gesendet, selbst dort, wo er einfach nur auf der Straße zu liegen scheint. Und ihre Mittel sind längst durch den intensiven Austausch mit anderen Medien geprägt. Wenn Literatur das ignoriert, wird sie unerheblich, egal, ob sie sich besser verkauft oder im kleineren Kreis philologisch verarbeitet wird. (...) Bei sich selbst kann Literatur nur bleiben, wenn sie die ,andere Technik‘ bewußt zum Bestandteil ihrer Arbeit macht. Dabei muß sie zugleich ihren tiefen Anachronismus und ihre aktuelle Randständigkeit nutzen. Denn nur von hier aus hat sie einen privilegierten Zugang zu den ideologisierten Formen gegenwärtiger Kommunikation.“ Mimetische Überlistung des Gegners also, durch zeitversetztes Nachäffen die Maschine zum Stottern bringen. Das klingt nicht eben privilegiert, und eine neue Strategie ist es wohl auch nicht; aber vor allem ist fraglich, ob etwas Lesbares draus wird, und zwar so lesbar, daß es die Literatur wieder in das Partygespräch zurückkatapultiert, aus dem Winkels sie verdrängt sieht. Als Gewährsmann zitiert er beispielsweise Rainald Goetz' „Medienmitschrift“ von 1989, in der Versprengsel unterschiedlichster Genres, Sportnachrichten, Geständnisse, Kriegsmeldungen oder Kritiken aneinandergezappt werden. Auf dem Strom der vermeintlich herrenlosen Rede sucht der Leser nach Inseln des Sinns, eine verzweifelte Robinsonade, die mit der wirklichen Mediennutzung der meisten Leute wohl wenig zu tun hat. Wer zappt, sucht sowenig nach „Sinn“ wie ein Spaziergänger (welchen „Sinn“ hätte die Nachbarschaft?); wer aber bei Sportschau, Kulturreport, Nachrichten oder dem Rainald-Goetz-Auftritt mit Westbam neulich im WDR Station macht, hat sofort jede Menge Sinn gratis. Davon abgesehen: Wer wollte seine Fernseherfahrung „lesen“? (Oder seine Leseerfahrung im Fernsehen wiederfinden?)

Neben den „Mimetikern“, zu denen er auch – mit unterschiedlichen Noten – Michael Crichton, Nicholson Baker oder Robert Coover zählt, sieht er (vor allem deutsche) Welterretter am Werk, die versuchten, die Literatur durch Rückgriff auf vormodernes Schwermetall wieder in ein sakrales Recht zu setzen: Handke und Vergil, Gert Heidenreich und die schwarze Gnosis, Helmut Krausser und der erhabene Schauder. Durch die sehr materialreiche und erfreulich elegant geschriebene Analyse zieht sich aber insgeheim eine traditionelle Figur der Kulturkritik von Nietzsche bis Karl Heinz Bohrer, die Winkels dann auch zum großen Lob von „American Psycho“ ins Feld führt: Das Leiden nämlich am immer Sekundären, immer schon Abgeleiteten, immer schon medial Verwursteten. In den plötzlich grell das Designer-Geplapper unterbrechenden Gemetzeln von Bret Easton Ellis' Roman sieht Winkels den „verzweifelten Versuch eines semiotischen Gegenzaubers ... Die einzige verbliebene Form, den Körper zum Sprechen zu bringen, ist es, ihn bluten zu machen.“ Dann lieber gleich Fernsehen.

Hubert Winkels. „Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und neue Medien“. Kiepenheuer & Witsch, 1997, 283 Seiten, 36 DM.