Also hat der Frohsinn eine Chance

Der Volkssturm findet nur noch im Sandalenfilm statt: „Schiller locken“ im Theater Nordhausen – Armin Petras inszenierte „Don Carlos“ zum Easy-Listening-Sound und jagte „Kabale und Liebe“ mit Gewinn über den Boulevard  ■ Von Petra Kohse

Geräucherter Haifischbauch, mit Sahne gefüllte Blätterteigrollen, Videos und eine Stellwand mit alten Programmzetteln – am letzten Wochenende war im Theater Nordhausen das große Schillerlocken angesagt. Kulinarisch und historisch derart flankiert, hatte im Großen Haus zunächst „Don Carlos“ Premiere, später auf der Hinterbühne „Kabale und Liebe“, im Foyer wurden parallel dazu Balladen vorgetragen, und ein Hörspiel gab es auch.

„Aber warum so ein umfangreicher Schiller-Abend?“ war der Regisseur Armin Petras zuvor in der Lokalpresse gefragt worden und hatte mit gebotener Nachsicht zur Antwort gegeben: „Es soll auch mal die Kraft eines kleinen Theaters demonstriert werden. Es ist sozusagen ein Experiment. Wir wollten wissen, was man mit 14 Schauspielern schaffen kann, und sind dabei an psychische und physische Grenzen gegangen. Außerdem will ich wissen, was unsere Klassiker heute noch bedeuten!“

Außer ihm wollten das leider nicht wirklich viele wissen, und von denen, die gekommen waren, drängte es etliche schon bald nach tätigem Vergessen. Macht nichts. Wer nach der „Don Carlos“-Pause wiederkam, genoß die desto bessere Sicht und konnte die schwächeren Momente der zweiten Inszenierungshälfte dazu nutzen, sich zu fragen, warum die Leute die starke erste nicht gemocht hatten. Vielleicht, weil schnell und leise gesprochen wird. Vielleicht, weil der Text geradezu waghalsig gekürzt wurde. Vielleicht aber auch, weil es in Petras' Lesart keine Helden gibt. Es geht – we are losers, baby – nur immer dem Ende zu, und das bei Schiller!

Don Carlos hängt schon vor Beginn, zitternd auf ein Knie gestützt, über dem Boden, Marquis de Posa klopft sich beim Auftritt den Staub von der Hose, zu dem zu werden er fest vorhat, und König Philipp täuscht mit Glatze, Zickenbart und schwarzen Nägeln einen dark room-Fürsten vor, dessen nervöse Grazie aber auch nicht mehr ist als eine allerletzte Formalität.

Bei solch schwarzer Perspektive kann keiner mehr tief fallen, und also hat der Frohsinn eine Chance. Zu Easy-Listening-Sounds springen die Hofdamen Seil und treiben rhythmische Gymnastik, der Marquis hat immer einen hispanisierenden Hüpfschritt parat, und auch sonst gibt es Pathos nur als Comic strip.

Ob Schillers „Don Carlos“ nun eine Familientragödie ist (Sohn Carlos liebt die zweite Frau des Vaters), ein Freundschaftsdrama (Posa opfert sich, um Carlos zu entlasten) oder ein politisch-aufklärerisches Stück (Posa agitiert Carlos, Freiheit ins absolutistische Reich zu bringen) – Armin Petras ist es egal. Als einzige Handlungsinterpretation zeigt er Posa und die Königin als eigentliches Paar. Ansonsten führt er ein Lebensgefühl vor, das sich in der Ausstattung akkurat spiegelt. Bühne (Annette Riedel) und Kostüme (Michaela Barth) sind in schwarzem Samt und Spitze gehalten, mit gezielten Tupfern in Orange: ein Stück Rückwand, die Briefe, ein Kronleuchter.

Die herzhafte Königin (Beate Laaß) bläst wasserballgroße Seifenblasen, der proletarisch anmutende Posa (Andreas Leupold) meißelt seinen eigenen Grabstein, und die Intrigantin Eboli (Anne Keßler) ist eine Göre mit bösen Zöpfchen auf dem Kopf. Easy Listening, Easy Acting – wozu sich aufbäumen, die Würfel sind gefallen, und der Volkssturm findet noch in verblassenden Sandalenfilmen statt (zweimal werden Szenen aus Stanley Kubricks „Spartakus“ eingeblendet).

So endet Carlos (Frank Voigtmann) denn diesmal auch nicht bei der Inquisition, sondern konsequenterweise auf dem Thron, und nachdem sich die Inszenierung gerade im zweiten Teil situationsverliebt ab und an verpusselt hat, ist dieses Schlußbild wieder alle Mühe wert: Steif wie ein Brett lehnt Carlos am Stuhl, während ihm sein Vater (Andreas Haase) die königliche Apfelsine in die Hand klopft, und sich hinter orange blinkenden Lichtern Spaniens Stier als überdimensionale Laubsägearbeit heranschiebt. Kein Widerstand, kein stirb und werde!, nur ein Bausteinwechsel im System.

Bei Armin Petras bildet sich Geschichte in ihren Chiffren ab, bestimmt Atmosphärisches die Dramaturgie und Spontaneität die Psychologie. Den „Don Carlos“ durchtänzelt er damit charmant, „Kabale und Liebe“ aber hat er voll im Griff. Genüßlich zerrt er kleinbürgerliche Befreiungsstrategien ans Licht und fördert, schau an!, dabei wirkliche Tragik zutage.

Der adlige Ferdinand liebt die bürgerliche Luise, soll aber Lady Milford heiraten, die Mätresse des Fürsten. Widerstand hat zunächst Zweck, wird aber gebrochen durch eine Intrige des Sekretärs Wurm, den es seinerseits zu Luise drängt. Durch die Verhaftung des Luisischen Vaters wird ein falscher Liebesbrief von ihr erpreßt, Ferdinands Herz bricht, Luise schweigt und wird vergiftet. Soweit das Original.

Armin Petras nun hat seine Inszenierung vorsichtig „nach Schiller“ untertitelt und schickt das Ganze einmal fröhlich übern Boulevard. Aus Ferdinands Vater hat er eine Mutter im Rollstuhl gemacht, Präsidentin im Reich der Vita Cola und Herrscherin über den größten Teil der Bühne. Luises Mutter ist im Gegenzug zur Stummheit verdammt, brütet hinter einem (unbewohnten, aber voll möblierten) Hamsterkäfig an einem Spiegel (Bühne: Annette Riedel) und zeigt zu Beginn jedes Aktes mit den Fingern an, der wievielte es ist.

Das bürgerliche Trauerspiel als ödipale Konfliktzone, als soziale sowieso, hier aber auch mit Lokalkolorit: Beim Licht der Pflanzenleuchte auf einem Kunstrasenpodest hockend, reicht Luise (Diana Neumann) dem Vater (Andreas Leupold) morgens ein Würstchen aus dem Glas und Nordhäuser Korn. Er guckt wie ein geklopfter Hase, der Schritt seiner Jogginghose hängt tief, sehr tief.

Auftritt Ferdinand, gespielt von Meinolf Steiner. Er und Luise lügen sich eine Pop-Existenz zurecht, hängen irgendwo zwischen Dark Wave und Punk und einander am Hals, dazu blöken die Böhsen Onkelz „Wir ham's getan“, und Ferdinand schlüpft in die angebotenen Puschen.

Ein Schnell- und Übereinanderlauf. Anne „Milford“ Keßler radebrecht englisches Zickendeutsch, Andrej „Wurm“ Kaminsky schleimt großangelegte Pirouetten, und Frank Voigtmann flattert als Hofmarschall von Kalb in silbernen Herrensandalen umher. Virtuoses Chargentum und dazwischen zwei gerade noch glühende Herzen. Meinolf Steiner stürmt, und Diana Neumann drängt. Dann aber geht's zielgenau ins Beziehungsdetail.

Als Ferdinand kommt, um sich zu rächen, will Luise mit einer Stickerei ablenken und sagt: „Ich zeig' dir das Desseng.“ „Dessäh“, korrigiert er da entnervt, und sie weiß, daß jetzt alles verloren ist. Erlahmte Liebe nimmt Zuflucht zu mißtrauischer Distanz, die Unfähigkeit, sich neu zu entwerfen, endet (es ist nun mal Schiller) im Schierlingsbecher. „Nichts hat Bestand, nicht mal das Leid“, dröhnen die Böhsen Onkelz noch, aber das hat keine Power, sondern macht nur noch Krach.

„Kabale und Liebe“ nicht als Kritik der Verhältnisse, sondern des zwischenmenschlichen Verhaltens. Weswegen Luise vor ihrem Tode auch nicht noch schnell ihre volle Tugend versichern muß, um als Opfer zu gelten. Hier bäumt sie sich auf, sagt „Sach ma, spinnst du?“ und stirbt.

„Schiller locken“-Spektakel: „Don Carlos“, „Kabale und Liebe“. Regie: Armin Petras. Bühne: Annette Riedel. Theater Nordhausen. Informationen unter Telefon: (03631) 983452