Rauswurf für die A-Klasse

Betriebsräte aus deutschen Mercedes-Werken besuchen ihre Kollegen in Brasilien und sind schockiert über das brutale Vorgehen des Unternehmens  ■ Aus Campinas Martin Kempe

Weitab von der holprigen Landstraße zwischen Alambari und Itapetininga im brasilianischen Bundesstaat São Paulo klammern sich rund hundert armselige Hütten an einen grünen Hang, schwarze Plastikplanen über kunstvoll vertäuten Bambusgerüsten. Der steinige Feldweg, die einzige Zufahrt zu diesem einsamen Dorf der letzten Hoffnung, endet hier. Im Bus breitet sich ein beklommenes Schweigen aus, als ein Vertreter der brasilianischen Landlosenbewegung MST verkündet: „Wir sind da.“

Die Gruppe der deutschen Mercedes-Betriebsräte und Vertrauensleute war von Kollegen der Metallgewerkschaft in Campinas, einer Millionenstadt etwa hundert Kilometer nordwestlich der brasilianischen Megametropole São Paulo, auf diesen Besuch vorbereitet worden. Aber was sie sehen, verschlägt den Gästen dennoch die Sprache. „Das darf doch nicht wahr sein“, stammelt einer der Deutschen angesichts der von Armut und Arbeit gezeichneten Männer und Frauen, der Kinder in zerschlissenen T-Shirts und Gummilatschen. „Rund 500 Familien“, erklärt der MST-Aktivist den Besuchern, haben die ungenutzen Ländereien einer Großgrundbesitzerin besetzt, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen.

Die Landbesetzer von Alambari und anderswo sind nicht allein. Die brasilianischen Gewerkschaften unterstützen die Landlosenbewegung und haben gemeinsam mit vielen anderen, zum Teil kirchlichen Organisationen die Agrarreform zum politischen Schwerpunkt erklärt. Die Metaller aus Campinas erklären ihren deutschen Gästen, warum: Rund 30 Millionen Menschen sind in diesem Riesenland, der achtgrößten Industrienation der Welt, völlig aus dem ökonomischen Prozeß ausgeschlossen, ohne jede Chance auf einen normalen Job, ohne jede soziale Absicherung. Immer mehr Familien können nicht einmal mehr ihre Elendshütte in der Favela bezahlen. Auf der anderen Seite liegen unendliche Ländereien, zumeist im Besitz von Großgrundbesitzern und ausländischen Konzernen, ungenutzt brach – wie jene 34.800 Hektar hügeliges, fruchtbares Weideland bei Alambari.

Wie schnell der Absturz ins soziale Elend gehen kann, erfahren die deutschen Mercedes-Betriebsräte in Campinas aus erster Hand. Die Straßen auf dem riesigen Werksgelände von Mercedes Benz do Brasil in Campinas sind gesäumt von gepflegtem Rasen. Hibiskusbüsche zeigen ihre Blütenpracht zwischen hoch aufgeschossenen Palmen und erwecken den Eindruck, als seien die weitläufigen Fertigungshallen der Mercedes-Busfabrik aus Versehen in eine gepflegte, sonnendurchflutete Parkanlage gestellt worden. Drinnen in den Werkshallen stehen zwar die Fertigungsstraßen für Innenausbau und Endmontage, die Grundierungs- und Lackieranlagen einsatzbereit herum – aber es ist in den letzten Monaten bedrohlich still geworden. „So sieht es bei uns am Sonntag aus“, murmelt Rudi, Vertrauensmann im Mannheimer Mercedes-Werk, beim Blick in die spärlich erleuchteten Gespensterhallen.

Die Werkshallen sind leer, die Rechtsberatung ist voll

Ubaldo César Rocha Fidelis und Genivaldo dos Santos sind im Vorstand der Metallgewerkschaft von Campinas für die Betreuung der Mercedes-Arbeiter zuständig. Ratlos schütteln sie den Kopf. Sie können nicht erklären, warum Mercedes Benz do Brasil bei einem Marktanteil von mehr als 60 Prozent die Fertigung von Komplettbussen eingestellt hat, nur noch das Chassis im Werk Campinas herstellt und den gesamten Aufbau und Innenausbau anderen Firmen überläßt. „Wir waren zu teuer“, heißt es beim Management. Und da gab es keine andere Möglichkeit, als 3.000 von 4.000 Beschäftigten rücksichtslos auf die Straße zu setzen?

Während Mercedes die Werkshallen in drei großen Entlassungswellen leergefegt hat, herrscht im Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft um so mehr Hektik. Die Menschen strömen den ganzen Tag über ein und aus, um sich Rechtsberatung zu holen, Papiere ausfertigen zu lassen oder auch nur, weil es niemanden sonst gibt, der ihnen zuhört. Ein schlanker, knapp über 40jähriger Mann, der seinen Namen nicht nennen will, versucht vergeblich, die Fassung zu bewahren. Mühsam zurückgehaltene Tränen sickern in die tief eingegrabenen Falten seines schmalen Gesichts, als er von seinen drei Kindern erzählt, 16, 14 und 10 Jahre alt. Jahrzehntelang hat er in verschiedenen Firmen gearbeitet, zuletzt bei Mercedes. Er weiß, daß er nie wieder einen normalen Arbeitsplatz finden wird, auch nicht für die Hälfte der rund 1.000 Real (1.500 Mark), die er bisher brutto verdient hat. Mercedes wird ihm fünf Monate den Lohn weiterzahlen. Fünf weitere Monate wird er noch ein Arbeitslosengeld in Höhe von rund 120 Real (180 Mark) bekommen. Das deckt nicht einmal die Kosten für die Wohnung. Danach ist Schluß, gibt es nichts mehr.

Entgeistert hören die deutschen Betriebsräte während eines gemeinsamen Seminars, was ihnen über die rüden Umgangsformen des Konzerns jenseits der deutschen Grenzen erzählt wird. Im Februar, bei der zweiten Kündigungswelle, hatte Mercedes den rund 1.200 Opfern einfach, ohne Vorwarnung, den Entlassungsbrief in die Hand gedrückt: keine Gespräche mit den Betroffenen, keine Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Die Bildung einer betriebsratsähnlichen Fabrikkommission hat das Management im Werk Campinas bis heute nicht zugelassen.

Als die Deutschen davon berichten, der Daimler-Konzern habe sich im Konflikt um die Lohnfortzahlung demonstrativ an die Spitze der Scharfmacher im Unternehmerlager gestellt, kommentieren die Brasilianer: „Wir kennen diese Verhaltensweisen seit langem.“ So versuche Mercedes in Brasilien, verschiedene Standorte gegeneinander auszuspielen. Obwohl es im Werk Campinas genügend ungenutzte Flächen gibt und damit die Arbeitsplätze hätten gesichert werden können, soll die neue A-Klasse in einem neuen Werk auf der grünen Wiese im Bundesstaat Minas Gerais produziert werden – „aus Kostengründen“, sagt das Management, „um die Löhne zu drücken“, sagt Valter Sanchez, Mitglied der Fabrikkommission in der Mercedes-Lastwagenfabrik in São Bernardo. Andreas, Betriebsrat im Werk Rastatt, dem zukünftigen deutschen Standort für die A-Klasse, faßt zusammen: „Es sind dieselben Methoden – hier bei euch und bei uns in Deutschland.“

15.000 Menschen in absolute Armut gestoßen

Immerhin, bei der letzten Entlassungswelle im Werk Campinas hat das Management den 920 Betroffenen vorher Bescheid gesagt und ihnen die Versetzung ins rund 120 Kilometer entfernte Hauptwerk nach São Bernardo angeboten – allerdings ohne jede Hilfe für Umzug und Wohnungssuche. Einige wurden von einem auf dem Werksgelände befindlichen Zulieferer übernommen. Aber auch diesmal stehen 28 Beschäftigte auf der Entlassungsliste, die nach brasilianischem Gesetz Kündigungsschutz genießen: Mitglieder der gesetzlich vorgeschriebenen Gesundheitskommission sind darunter genauso wie Beschäftigte mit arbeitsbedingten Krankheiten.

„3.000 Arbeitsplätze hat Mercedes in Campinas abgebaut, das sind rund 15.000 betroffene Menschen“, rechnet Ubaldo vor. Er hat viele der Familien zu Hause besucht – Männer, die häufig ihre Verzweiflung im Alkohol ertränken und damit ihre Familien zerstören, Frauen, die trotz allem versuchen, ihre Kinder durchzubringen, Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können und sich vielleicht durch irgendwelche Hilfsdienste ein paar Groschen erbetteln. „Viele haben ihre Häuser verloren“, berichtet er. „Viele Familien sind auseinandergefallen. 99 Prozent leben in absoluter Armut.“

Benedito ist einer der entlassenen Mercedes-Arbeiter. Er versucht sich durch alle möglichen Gelegenheits- und Zeitjobs über Wasser zu halten. „Das Geld von der Abfindung wird bald verbraucht sein“, berichtet er. „Wir leben von der Substanz.“ Sein Auto hat er schon verkauft. Er macht jetzt für eine Fahrschule Werbung auf Provision, bekommt Geld für jeden neuen Kunden. Außerdem hat er einen Anbau an seinem Häuschen für 180 Real (270 Mark) vermietet, und sein ältester Sohn bekommt für einen Billigjob 120 Real (180 Mark) im Monat. Aber das reicht nicht für die fünfköpfige Familie. „Wer hier seine Arbeit verliert, hat seine Menschenwürde verloren“, sagt er.

Vielleicht wird sich Benedito bald unter jene Menschenmenge mischen müssen, die sich jeden Morgen auf dem Largo do Rosário bildet, einem prächtigen Platz mitten im Zentrum von Campinas. Eine etwa einen Meter hohe Mauer umschließt auf rund 30 Metern ein gepflegtes, mit Büschen und Bäumen bewachsenes Beet. Diese Mauer ist die Jobbörse.

Die Zeitarbeitsagentur Treinoeras bietet einen Handlangerjob an – für zwei Monate, die Workcell-Agentur immerhin einen halben Elektrikerjob für ein Jahr. Eine Chance hat nur, wer es schafft, sich am frühen Morgen durch die dichte Menschenmenge in die erste Reihe zu drängeln, um einen Blick auf die neuesten Angebote zu erhaschen. Einer, der es geschafft hat, zeigt sein Arbeitsbuch: dem ist zu entnehmen, daß er einen Tag in der Woche als Aushilfskraft in einem Industriebetrieb vor den Toren der Stadt jobben darf.

Auch Ubaldo kennt das Leben in permanenter Unsicherheit. Vor Jahren ist er aus Bahia im Nordosten des Landes gekommen, um im industrialisierten Süden sein Glück zu suchen. Er hat es gefunden mit Maria, seiner Frau, die in einem städtischen Kindergarten arbeitet, mit den beiden Kindern Joao (15) und Susy (13), die eine weiterführende Schule in der Stadt besuchen. Die Familie hat sich in den letzten Jahren ein bescheidenes, noch unfertiges Häuschen im Vorort Novo Maracana gebaut, wo die lehmigen Straßen von tiefen Wasserrinnen durchzogen werden, aber immerhin schon Strom und Kanalisation gelegt sind. Noch bewahrt ihn seine gewerkschaftliche Arbeit vor dem sozialen Absturz. Aber er weiß, daß er auf schwankendem Boden steht. Denn auch er wurde im letzten Jahr von Mercedes vor die Tür gesetzt.

„Dort drüben“, zeigt er bei einer Rundfahrt durch sein Stadtviertel, „ist ein besetztes Gelände.“ Dort haben jene ihre Hütten errichtet, die Arbeit und Wohnung verloren haben und keinen anderen Ausweg mehr wußten, als sich auf halblegale Weise eine neue Bleibe zu schaffen. Manche von ihnen, glaubt Ubaldo, werden irgendwann auf ihrer Suche nach einer Überlebensperspektive weiterziehen, zurück aufs Land, werden wie die Besetzer von Alambari auf verbotenem, aber ungenutztem Gelände ihre schwarzglänzenden Plastikhütten errichten.