Die bittere Schattenseite der neuen Freiheit

■ Unicef besorgt über großes Elend von Kindern und Jugendlichen in Osteuropa

Bonn (epd/taz) – Die Lebenssituation der Kinder in Osteuropa verschlechtert sich dramatisch. Zunehmende Armut und Verwahrlosung, Ausbreitung von Infektionskrankheiten, steigende Selbstmordraten und vermehrte Kriminalität seien die „Schattenseiten der neuen Freiheit“ nach dem Ende des Kommunismus. So steht es im Osteuropa-Bericht von Unicef, der gestern in Bonn vorgestellt wurde. Kinder seien durch die wachsende Armut und den Zusammenbruch der staatlichen und sozialen Strukturen hart getroffen, sagte der Vorsitzende von Unicef in Deutschland, Reinhard Schlagintweit.

Viele Kinder kämen bereits krank oder untergewichtig zur Welt, weil ihre Mütter mangelhaft ernährt seien. Außerdem nähmen die „Krankheiten der Armut“, wie Diphterie und Tuberkulose, zu. Impfstoffe seien nicht ausreichendend vorhanden. Gesundheitssysteme und Sozialsysteme seien ungenügend und müßten erst neu aufgebaut werden. Schulbildung sei für die Kinder nicht mehr selbstverständlich. Rund fünf Prozent der Kinder eines Jahrgangs besuchten in Rußland nicht mehr die Schule.

Unicef beklagt auch die wachsende Kriminalitätsrate von Kindern und Jugendlichen. Als Indiz für die großen psychischen Probleme Heranwachsender nennt Unicef den steilen Anstieg der Selbstmordrate von Jugendlichen. In Rußland brachten sich 1995 fast doppelt so viele Jugendliche um wie 1989. Schlagintweit machte außerdem auf die steigende Zahl elternloser Kinder aufmerksam. Seit 1989 ist die Zahl der Waisenkinder auf ungefähr eine Million gestiegen. Hierzu zählen auch viele Sozialwaisen, die von ihren Eltern einfach verlassen wurden. Die Kinder werden in Heimen untergebracht, jedoch ist die Chance gering, daß sie adoptiert oder von einer Pflegefamilie aufgenommen werden. Unicef kritisiert, daß die Kinder in den Heimen schlecht untergebracht sind und von unqualifiziertem und überlastetem Personal betreut werden. Behinderte Kinder würden sich meist selbst überlassen. Die Zahl der Scheidungen, die in allen 18 osteuropäischen Ländern in die Höhe geschnellt sei, wirke sich generell negativ aus. In Estland wurden 1995 mehr Ehen geschieden als geschlossen. Damit verbunden sei auch eine steigende Zahl von Alleinerziehenden.

Schlagintweit forderte Hilfe für Osteuropa, insbesondere beim Aufbau von Sozialsystemen und Gesundheitsstationen. Das Kinderhilfswerk unterstützt derartige Projekte in der präventiven Sozialpolitik. Neben der Lieferung von Impfstoffen, Medikamenten und Laboratorien bildet Unicef auch Personal aus, um die gesundheits- und sozialpolitische Entwicklung zu fördern. ve